Frauenfussball in der Schweiz Die WM-Euphorie ist verflogen – «so bringen wir das Ding nie vom Boden weg»
Volle Stadien und hohe Einschaltquoten an der WM, ein paar Hundert Fans in der höchsten Schweizer Liga. Der Frauenfussball muss um jeden kleinen Schritt nach vorne kämpfen. Aber es bewegt sich was.

So sieht sie also aus, die Realität. Nach einem Monat voller Hochglanzbilder und gefüllter Stadien in Australien und Neuseeland sind im Heerenschürli die Regenschirme aufgespannt. FC Zürich gegen FC Aarau, Startspiel der amtierenden Meisterinnen in der Women’s Super League. Und weit und breit kein Dach, das vor dem Dauerregen schützt.
Als die Einlaufmusik verstummt, ist fast nur noch eine Stimme zu hören. Raimondo Ponte, Trainerveteran mit unverkennbar rauchigem Timbre, coacht 26 Minuten lang durch. Dann geraten seine Aarauerinnen in Rückstand – und auch Ponte wird still.
Das Spiel ist eine mögliche Antwort auf die Frage, die seit Jahren nach jedem grossen Turnier gestellt wird: Ist das jetzt der Moment, in dem der Fussball der Frauen auch hierzulande gross wird? Nein, eine WM auf der anderen Seite der Welt löst nicht Probleme und Widerstände in der Schweiz.
Wer mehr darüber erfahren will, ruft Marisa Wunderlin an. Die 36-Jährige hat in der höchsten Liga gespielt, sie war beim FCZ und bei YB tätig und Assistenztrainerin von Nationalcoach Nils Nielsen. Heute ist sie Trainerin des FC St. Gallen. «Wie viel Platz haben Sie?», fragt sie zu Beginn des Gesprächs und lacht, «eine Seite fülle ich Ihnen.»
Das ist untertrieben, weil Wunderlin vom Thema umgetrieben wird. Professionalisierung, Ausbildung, Vermarktung, Infrastruktur, Struktur, Medienresonanz, Finanzierung: Alles Themen, bei denen sie in der Schweiz dringenden Aufholbedarf ortet.
«Wenn du Plätze und Coachs hast, dann explodiert es»
Für sie beginnt es bei den Kindern. Dort, wo die Breite herkommen soll, die es braucht, um später Spitzenspielerinnen zu haben. Bei fehlenden Trainerinnen, zu wenigen Fussballplätzen in den Städten und bei Vereinen, die keine Mädchenteams anbieten wollen oder können. «Plätze und Coachs – wenn du beides hast, explodiert es», sagt sie. Sie erzählt von Clubs mit reinen Mädchenteams wie Breitenrain oder FFV Basel, «die melden jede Saison drei neue Teams an, das ist immens».
Wunderlin redet nicht nur. Sie hat auch ganz konkrete Ideen. Wie etwa Frauen in die Trainerkurse gebracht oder die Angebote der Spitzensport-Armee noch besser für die Spielerinnen der Super League genutzt werden könnten. Warum es auch wichtig sei, solche Projekte explizit auch mit Menschen aus dem Frauenfussball aufzubauen. «Es geht darum, Personen mit dem Feuer für den Frauenfussball und dessen Weiterentwicklung mit ans Steuer zu nehmen und nicht automatisch davon auszugehen, dass das, was im Männerprofifussball gut ist und war, auch im Spitzenfussball der Frauen gut sein wird»

Ein Thema zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Aufzählung: das fehlende Bewusstsein für die Bedürfnisse der Frauen im Fussball. Auch weil es wenig bis gar keine weiblichen Entscheidungsträgerinnen gibt. Da kann dann ein 60-jähriger Mann einer jungen Frau in vollem Ernst erklären, er habe also nie diese Probleme gehabt, von denen sie gerade spricht. Anliegen abgelehnt.
Wunderlin vergleicht Frauenfussball darum mit einem Start-up, das auf Mitarbeiterinnen angewiesen ist, die alles für das Unternehmen geben: «Wenn wir dieses Start-up zum Fliegen bringen wollen, brauchen wir die Person, die Frauenfussball- Produkte mit einem Leuchten in den Augen verkauft, oder die Athletiktrainerin, die bereit ist, sich bis in alle Nacht internationale Vergleichswerte von Frauen herauszusuchen. Aktuell ist das meiner Meinung nach zu oft nicht die Realität – und so bringen wir das Ding nie vom Boden weg. Aber es gibt viele Menschen aus dem Frauenfussball, die darauf brennen, dies zu ändern.»
Natürlich ist das Geld auch ein Thema. Knapp 6,4 Millionen Franken hat der Verband 2022 für die Direktion Frauenfussball ausgegeben. Fast 2,9 Millionen davon für das Nationalteam.
«Megaviel» sei passiert in den letzten Jahren, sagt Wunderlin. Aber sie findet auch: «Nur weil viel passiert ist, bedeutet es nicht, dass es genug ist fürs Erreichen der Ziele.» Der SFV selbst hatte in seiner Strategie ausgegeben, künftig regelmässig an Grossanlässen wie EM und WM dabei sein zu wollen.
65’000 Franken für einen Männertrainer – 40’000 für eine ganze Frauenabteilung
Die WM hat gezeigt, welch grosse Fortschritte Nationen machen, in denen Geld in die Ausbildung und in eine professionelle Liga für Frauen fliesst. Und die Schweiz hat ja bei den Männern längst bewiesen, dass sie Talentförderung kann. Wer deswegen aber denkt, dass sie dieses Modell einfach bei den Mädchen wiederholt, sollte sich die nackten Zahlen anschauen.
Erfüllt ein Club der Super League der Männer die Vorgaben, erhält er aus einem Topf von Verband und Liga Subventionen. Für einen voll angestellten Trainer im Nachwuchsbereich kann er 65’000 Franken im Jahr erhalten. Für eine 50-Prozent-Stelle gibt es 30’000 Franken. Maximal dürfen so 6,5 Stellen abgerechnet werden.
Für die Teams in der Women’s Super League sind die Vorschriften zwar geringer. Dafür gibt es aber auch nur 40’000 Franken im Jahr – für alle Teams bei den Juniorinnen zusammen. Dazu kommen noch kleinere Zahlungen für U-Nationalspielerinnen.
«Wir haben im Nachwuchs dieselben Herausforderungen wie die Männer, erhalten aber nur einen Bruchteil des Geldes», sagt Willy Wenger. Der Präsident der FC Aarau Frauen schildert die Folge dieser Diskrepanz: «Wir können bei den Löhnen der U-Trainer nicht mithalten.» Ihm bleiben jene, die sich für den Frauenfussball einsetzen wollen. Oder solche, die bei den Männern keine Stelle erhalten. Wenger wünscht sich darum mehr Unterstützung durch den nationalen Verband, um die Löhne der Trainerinnen und Trainer im Nachwuchs zu bezahlen.
«Der Verband kann nur ausschütten, was er auch einnimmt»
Marion Daube ist die Frau, die solchen Anliegen jeweils eine Absage erteilen muss. Die Direktorin Frauenfussball beim SFV sagt: «Der Verband kann nur ausschütten, was er auch einnimmt. Solange das Produkt nicht mehr Einnahmen generiert, kann ich nicht mehr geben.» Sie findet aber auch: «Der Verband, aber auch Wirtschaft und Politik sind in der Pflicht, mehr in den Frauensport zu investieren, damit sich langfristig etwas verändert.»

Auf dem Heerenschürli ist Pause. Zürich führt 1:0. Von den etwas mehr als 200 Menschen mit Schirm verlassen einige die Anlage. Der Dauerregen ist zwar in ein Nieseln übergegangen. Aber in einer Stunde spielen die Männer des FCZ im Letzigrund gegen St. Gallen. Beide Spiele in voller Länge schauen? Unmöglich.
Letzte Saison kamen an Heimspiele der FCZ-Frauen auch schon 1000 bis 2500 Fans. Aber wenn sich die Partien in die Quere kommen, geben nur die wenigsten den Frauen den Vorzug.
Die Frage, warum solche Überschneidungen nicht verhindert werden, beweist, wie komplex scheinbar einfache Dinge sein können: Weil viele Frauenteams auf Gemeindeanlagen spielen, müssen die Spiele vor Saisonstart für ein ganzes Jahr festgelegt werden. Die Super League der Männer dagegen setzt die Spiele kurzfristiger an – und nimmt dabei keine Rücksicht auf die Frauen.
Das Beispiel zeigt, an wie vielen Stellen für jeden noch so kleinen Schritt gezogen und gezerrt werden muss, der den Frauenfussball vorwärtsbringt.
Die Männerclubs stehen in der Pflicht
Daube weiss, dass die Women’s Super League noch viele solche Schritte nehmen muss. Eben hat sie eine neue Stelle geschaffen, «um die Liga weiter zu professionalisieren». Aber sie nimmt auch die Clubs der höchsten Männerliga in die Pflicht. Diese müssten «mehr in ihre Spielerinnen investieren», findet sie.
Und es gibt tatsächlich Zeichen, dass sich die Schweizer Profivereine bewegen. Acht von zehn Clubs der Women’s Super League nutzen Infrastruktur der Männer. Sechs geben an, dass sie von der Männerabteilung quersubventioniert werden. Gleich viele haben zumindest ein paar Spielerinnen, die vom Fussball leben. Alle zehn wollen wenigstens ein paar Spiele in jenem Stadion austragen, in dem auch die Männer spielen.
Irgendwann kämpft sich über dem Heerenschürli die Sonne durch die Wolken. Ein Regenbogen spannt sich hoffnungsfroh über den Himmel. Der FCZ gewinnt 3:0. Nein, nein, sagt WM-Spielerin Seraina Piubel auf SRF, ein Kulturschock seien die wenigen Fans für sie nicht gewesen: «Das kenne ich ja. Für mich war eher die WM eine Herausforderung.»
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