Botschafter Frankreichs und Deutschlands im Interview«Veraltetes Verständnis von Neutralität»: Wie unsere Nachbarn die Schweiz sehen
Marion Paradas und Michael Flügger sagen, was sie von den Schweizer Plänen für einen Ukraine-Friedensgipfel halten. Und sie verraten, was sie an unserem Land speziell finden.
Die Schweiz und die Ukraine haben letzte Woche einen Friedensgipfel angekündigt. Herr Flügger, überschätzt die Schweiz ihre eigenen Fähigkeiten?
Michael Flügger: Das kann ich nicht beurteilen. Frau Amherd hat ja öffentlich erklärt, dass sie erst sondieren will, wie dieser Friedensgipfel aufgegleist werden kann. Man solle auch einmal etwas ausprobieren können – auch wenn Russland eine Teilnahme an einem solchen Gipfel abgelehnt hat. Es ist wichtig, der Ukraine zur Seite zu stehen – als Land und als Verteidiger von internationalen Werten wie Demokratie und internationaler Friedensordnung.
Frau Paradas, ist dieser Friedensgipfel mehr als «Bullshit-Diplomacy», wie es eine Schweizer Zeitung formuliert hat?
Marion Paradas: Ich würde mir so eine Aussage ganz bestimmt nicht erlauben. Die Ukraine hat mit der Friedensformel einen Plan gemacht. Den unterstützen wir. Und auch die Schweiz trägt ihren Teil bei. Wir wollen die Sicherheit in Europa wiederherstellen – aber nicht zu jedem Preis. Muss man dafür einen Gipfel abhalten? Das wird sich zeigen.
Die Schweiz ergreift mit der Organisation dieses Gipfels auch Partei für die Ukraine und ihren Präsidenten Selenski. Ist das ihre Rolle als neutrales Land?
Paradas: Die Schweiz ist ein europäisches Land. Seine Sicherheit ist ein Teil der Sicherheit Europas.
Flügger: Das sehe ich genauso.
Ist die Schweizer Neutralität in einer multipolaren Welt noch moralisch vertretbar?
Flügger: Die Neutralität der Schweiz ist unbestritten. Die Frage ist, wie diese Neutralität ausgelegt wird. Die Schweiz orientiert sich bei der Interpretation an der Haager Landkriegsordnung von 1907. Obwohl wir inzwischen eine UNO-Charta haben, die klar unterscheidet zwischen Aggressor und Opfer eines Angriffskrieges. Die Schweiz hat aus unserer Sicht ein veraltetes Verständnis von Neutralität. Aber dass die Schweiz nun ihre Guten Dienste anbietet, finde ich absolut neutral.
Worin zeigt sich denn Ihrer Meinung nach dieses «veraltete Verständnis» von Neutralität?
Flügger: Bei den Waffenexporten wird dieses Verständnis besonders deutlich. Wir haben etwa vor 25 Jahren mit deutschen Steuergeldern Waffen gekauft. Jetzt sagt man uns: Übrigens, da gibt es einen Vorbehalt der Schweiz, an den keiner mehr gedacht hat. Ihr dürft diese Waffen nicht an eure Partner weitergeben. Wir hoffen schon, dass das Kriegsmaterialgesetz irgendwann angepasst wird, zumal die Schweiz ja anerkannt hat, dass auch sie von der Nato geschützt wird und Partner des «Partnership for Peace»-Programms der Nato ist.
Frau Paradas, sehen Sie das auch so?
Paradas: Die Waffenexport-Politik ist eine Frage der Souveränität. Jedes Land führt da eine Analyse im Hinblick auf seine Interessen durch. Wir teilen die Analyse der Schweiz nicht und finden, dass wir die Ukraine bei ihrer Verteidigung unterstützen müssen.
«Die Extreme haben die Demokratie nie bis zum Ende verteidigt.»
Herr Flügger, Deutschland investiert viel mehr in Waffenlieferungen an die Ukraine als Frankreich. Warum?
Flügger: Wir hatten anfangs grosse Schwierigkeiten damit, Waffen zu liefern. Es gab deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg, die sowohl die Ukraine als auch Russland überfallen und schwer beschädigt haben. Aber dann hat sich der Gedanke durchgesetzt: Hier sind die europäische Sicherheit und der Respekt vor dem internationalen Recht bedroht. Da ist es unsere Verantwortung, der Ukraine in ihrem Abwehrkampf auch im Interesse der europäischen Ordnung zu helfen.
Das heisst, es ist in Ordnung, dass Deutschland aufgrund der historischen Verantwortung mehr für die Ukraine macht als Frankreich?
Flügger: Ich masse mir nicht an, zu beurteilen, was Frankreich macht. Ich habe auch gelesen, dass Frankreich mehr tun will. Vielleicht gibt es dort auch weniger öffentliche Diskussionen. Bei uns wird ja jede Lieferung öffentlich diskutiert. Das ist vielleicht auch ein Nachteil unserer Form der Demokratie. Aber wir tun, was wir können. Und wir sind halt auch noch ein Stück näher dran als Frankreich.
Wäre es für Frankreich nicht einfacher, mehr Waffen zu liefern, weil es weniger öffentliche Diskussionen darüber gibt?
Paradas: Wir haben geliefert, was wir konnten.
Und doch haben Sie weniger geliefert als Deutschland.
Paradas: Ich glaube, was das Volumen angeht, haben wir tatsächlich weniger geliefert. Das lag aber primär an der Verfügbarkeit von Waffen. Wie viele andere moderne Armeen hat Frankreich keine riesigen Vorräte. Jetzt investieren wir wieder mehr in unsere Verteidigung. Die industrielle Produktion dauert lange. Dennoch glaube ich, dass wir schon heute besser vorbereitet sind. Und wir stehen kurz vor dem Abschluss eines Sicherheitsabkommens mit der Ukraine.
Vor zehn Jahren haben Ihre beiden Länder mit der Ukraine und Russland verhandelt, es wurde ein Abkommen abgeschlossen. Sind Deutschland und Frankreich diesmal zu passiv, um einen Friedensprozess in Gang zu setzen?
Flügger: Heute arbeiten Frankreich und Deutschland im Kontext der G-7 und der EU eng und aktiv zusammen. Die damalige Sonderrolle unserer beiden Länder ergibt sich daher nicht mehr. 2014 war die Ukraine nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Wir wollten verhindern, dass die Russen über die Ukraine hinwegfegen. Russland hatte die internen Verwerfungen in der Ukraine damals rücksichtslos ausgenutzt. Wir können also eine Aktion wie 2014 nicht wiederholen. Die Russen wollen sich die Ukraine einverleiben und zudem das internationale Ordnungssystem zerstören. Moskau versucht, einen Keil in die internationale Phalanx zu treiben. Und das gelingt derzeit leider zum Teil.
Der französische Präsident Emmanuel Macron hat diese Woche in Berlin eine Rede auf Deutsch gehalten. Und Sie feiern das Jubiläum des Élysée-Vertrags, der die Zusammenarbeit Ihrer beiden Länder regelt. Ist die Kooperation angesichts der geopolitischen Lage enger denn je?
Flügger: Es gab immer Momente, in denen die deutsch-französische Zusammenarbeit gross war. Ich erinnere an den Fall der Berliner Mauer, wo wir ohne die Franzosen nie eine deutsche Einheit hinbekommen hätten. Manchmal dauert es ein bisschen länger, bis wir uns finden. Aber wenn das passiert ist, vermögen wir andere europäische Partner mitzuziehen. Insofern würde ich sagen: Ja, aktuell ist ein besonders intensiver Moment unserer Zusammenarbeit.
Paradas: Es ist wirklich eine Beziehung von beispielloser Intensität. Und sie ist für das Funktionieren der Europäischen Union unerlässlich.
Die AfD und der Rassemblement National – in Ihren Ländern gibt es einen starken Anstieg der nationalistischen Rechten. Sind Sie beunruhigt?
Paradas: Dies ist ein Zeichen für das Unbehagen der Mittelschicht, die sich Sorgen um ihre Zukunft macht und vielleicht glaubt, dass die Extreme besser in der Lage sind, Lösungen zu bieten. Manche denken: «Wir haben es noch nie probiert, also ist es vielleicht besser.» Das ist beunruhigend, denn die Geschichte hat gezeigt, dass die Extreme die Demokratie nie bis zum Ende verteidigt haben.
Flügger: Natürlich ist das besorgniserregend. Bisher geht es aber vor allem um Wahlumfragen, und da kommt viel Protest zum Ausdruck. Was mich immer wieder erstaunt: Die Sorge vor Ausländern ist vor allem in ostdeutschen Bundesländern gross. Obwohl dort der Ausländeranteil sehr tief ist. Frankfurt z.B. hat einen Ausländeranteil von weit über 25 Prozent. In Dresden müssen Sie hingegen suchen gehen. Das Problem ist, dass es der Politik im Moment offenbar schwer gelingt, die Leute davon zu überzeugen, dass da keine Bedrohung ist. Die Europawahlen dieses Jahr werden in dieser Hinsicht sehr kritisch sein.
Kommen wir zurück zur Schweiz – und zu Ihrer Beziehung mit der EU. Glauben Sie an erfolgreiche Verhandlungen?
Paradas: Ja. Unsere Wahrnehmung als EU-Mitglied ist, dass es im Interesse beider Seiten wäre, die Verhandlungen zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Anders als beim Rahmenabkommen handelt es sich um separate Abkommen mit klar abgegrenzten Bereichen. Die Schweizer Verhandlungsführer haben in den Vorgesprächen viel Arbeit geleistet.
Flügger: Ich habe damals die Gespräche zum Rahmenabkommen noch mitbekommen, bevor die Schweiz den Stecker gezogen hat. Nun habe ich die neue Sondierungsphase beobachtet. Und ich glaube, dass beide Seiten jetzt wirklich aufeinander zugegangen sind. Insofern bin ich auch sehr zuversichtlich, dass man die Verhandlungen in diesem Jahr zu Ende bringen kann. Die Zeit läuft uns weg.
Weshalb eilt es aus Ihrer Sicht so?
Flügger: Es geht nicht nur um die «Bilateralen III». Die Bilateralen I und II werden weiter erodieren. Die Schweiz kann als reichstes Land Europas nicht länger einen privilegierten Sonderzugang zum Binnenmarkt reklamieren. Das können wir den ärmeren EU-Ländern nicht erklären. Diese müssen jede einzelne Regel umsetzen – obwohl es ihnen schwerfällt. Und die Schweiz fordert Ausnahmen bei Spielregeln, die für alle Teilnehmer am Binnenmarkt gelten.
«Die Schweiz ist froh über jede Fachkraft, die sie aus Deutschland bekommt.»
Pierre-Yves Maillard, der Chef der Schweizer Gewerkschafter, warnt vor Lohndumping aus der EU. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf?
Paradas: Es gibt keinen Grund, warum man mit der Schweiz keine Lösung finden sollte, da wir doch eine Lösung zwischen allen EU-Ländern gefunden haben. Solche technischen Fragen gefährden kein ganzes Abkommen.
Flügger: Es kommen nicht Millionen Arbeitnehmer in die Schweiz, sondern immer wieder dieselben Firmen, zum Beispiel aus Baden-Württemberg oder dem grenznahen Frankreich. Die sind bestens bekannt und werden genau kontrolliert. Jetzt sagt man plötzlich, die Spesenfrage sei ausschlaggebend. Das ist unverhältnismässig.
Was die Spesen angeht, machen sich die Sozialpartner vor allem Sorgen um polnische Firmen. Da hatte Deutschland doch ähnliche Probleme?
Flügger: Ja, aber wir haben massenhaft mehr polnische entsandte Arbeitskräfte, als Sie hier in der Schweiz haben. Das steht in keinem Verhältnis. Und wir haben eine Lösung gefunden. Wir sind froh über jede Fachkraft, die wir aus Polen bekommen. Und die Schweiz ist froh über jede Fachkraft, die sie aus Deutschland bekommt.
Nun eine persönliche Frage: Was ärgert Sie in Ihrem Alltag in der Schweiz am meisten?
Paradas: Es gibt nichts, was mich in meinem Alltag als Botschafterin in der Schweiz nervt.
Flügger: Mein Alltag ist auch angenehm.
Dann anders gefragt: Was ist speziell an der Schweiz?
Michael Flügger: Mich erinnert Bern ein bisschen an die Zeit, als Bonn unsere Hauptstadt war. Alles eng beieinander, man ist in fünf Minuten beim nächsten Termin. Überall kann man anrufen und hat sofort einen Gesprächspartner. Das ist in anderen Hauptstädten anders. Speziell ist auch, dass die Kantone unabhängiger von der Landesregierung sind als die Bundesländer von der Bundesregierung. Wenn die Bundesländer in der Krise sind, rufen sie sofort nach Berlin. Analog ist das hier nur selten der Fall. Für mich ist das ein Zeichen, dass die Basis in der Schweiz sehr stark ist und das Land von unten nach oben organisiert ist.
Paradas: Auch diese ständige Sorge von Regierung und Parlament, ob ein Entscheid die Zustimmung des Volkes finden kann, ist speziell. Und die Regierungsform mit dieser Zauberformel.
Marine Le Pen und Emmanuel Macron in einer Regierung …
Paradas: Aus französischer Sicht ist die Zauberformel tatsächlich schwerer vorstellbar.
Viele Expats klagen über die Reserviertheit der Schweizerinnen und Schweizer. Haben Sie hier Freunde?
Flügger: Ich bin verheiratet mit einem Schweizer.
Paradas: Da kann ich nicht mithalten. Es sei denn, ich würde meinem Mann ankündigen, dass ich ihn verlasse. (lacht) Aber Scherz beiseite: Mein Mann hat zwei Töchter, ich habe auch zwei Töchter. Eine seiner Töchter ist Schweizerin, sie arbeitet seit mehr als zehn Jahren hier. Sie hat drei kleine Kinder, die alle drei ebenfalls Schweizer sind. Und meine älteste Tochter ist auch gerade nach Genf gezogen.
Sie nehmen uns ja geradezu ein …
Paradas: Ja, wir nehmen die Schweiz ein – aber nur mit unseren besten Leuten. (lacht)
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