Fotografin aus HorgenSie macht das erste und letzte Bild von verstorbenen Babys
Die Fotografin Dalia Fichmann aus Horgen besucht Familien, die ihr Neugeborenes verloren haben. Sie schafft oft das einzige Andenken an das Sternenkind.
Der schwierigste Moment für Dalia Fichmann ist, wenn sie vor der Tür des Spitalzimmers steht. Sie weiss nicht, was sie genau erwartet, sondern nur, dass im Zimmer ein verstorbenes Neugeborenes liegt. Sie wird die Eltern kennen lernen, die gerade den grössten Schmerz einer Mutter oder eines Vaters durchleben. Nämlich den, ein Kind verloren zu haben. «Es braucht jedes Mal eine grosse Portion Überwindung, um anzuklopfen», sagt sie, die selber einen gesunden Sohn hat.
Sie staune dann aber immer wieder, dass die Eltern erleichtert seien, wenn sie sich als Fotografin vorstelle. Ihr Besuch dränge die Trauer wohl für einen kurzen Moment in den Hintergrund. «Wenn das passiert, ist das Eis gebrochen», sagt die 54-jährige Fotografin. Dann könne sie mit ihrer Arbeit beginnen.
Als würden sie schlafen
Dalia Fichmann fotografiert seit rund vier Jahren Kinder, die vor, während oder kurz nach der Geburt gestorben sind. Diese Einsätze leistet sie ehrenamtlich, koordiniert werden sie über die Stiftung «Dein Sternenkind», die in Deutschland, Österreich und der Schweiz aktiv ist.
Auf den Fotos wirken die Kinder, als würden sie friedlich schlafen. Sie haben hübsche Kleidchen an oder sind in kuschelige Decken gewickelt. Einige sind so klein, dass sie in einer Hand Platz haben. Anderen wiederum sieht man der Körperhaltung oder einem Schläuchlein in der Nase an, dass sie nicht gesund auf die Welt gekommen sind.
Dalia Fichmann fotografiert Frühchen bereits ab der 11. Schwangerschaftswoche, wenn sie noch lange nicht fertig entwickelt sind. Vor ihre Kamera kommen auch Neugeborene, die wegen einer Fehlbildung keine Überlebenschance hatten.
Sie wählt eine vorteilhafte Perspektive, zieht den Babys ein Mützchen an oder wickelt sie in ein Tuch. «Auch wenn das Kind eine Missbildung hat, ist es für die Mutter ein schönes Kind», sagt Dalia Fichmann, «sie soll deshalb auch schöne Fotos erhalten.»
Mützchen, Tuch und Kinderzeichnung
Manche Eltern, die schon vor der Geburt wussten, dass ihr Kind nicht leben wird, haben eine Vorstellung, wie es auf den Fotos aussehen soll, und bringen Kleidchen mit, die ihnen etwas bedeuten. Es kommt auch vor, dass eine Bastelarbeit eines Geschwisters, ein Stofftier oder eine Blume mit auf das Bild kommen. «Es berührt mich jedes Mal, wenn ich sehe, wie die Eltern ihr verstorbenes Kind umsorgen.»
Nicht alle Eltern haben diese Gelegenheit. Die Fotografin bringt deshalb immer Gegenstände mit. Das sind speziell kleine Babykleidchen oder Sterne und Herzen, die freiwillige Näherinnen anfertigen. Bei den viel zu früh Geborenen, die noch kein entwickeltes Babygesicht haben, fokussiert sie beim Fotografieren eher auf Händchen und Füsschen, die sie beispielsweise auf die Herzen und Sterne legt.
Eltern haben Berührungsangst
Nicht selten kommt es vor, dass die Eltern ihr verstorbenes Kind noch nicht in die Arme genommen haben, wenn sie eintrifft. «Ich frage die Mutter und den Vater immer, ob es für sie in Ordnung ist, wenn ich es berühre.» Das müsse sie ohnehin, um das Baby für das Bild herzurichten.
Dalia Fichmann lädt die Eltern dann ein, mit einem Finger eine Babyhand oder die Füsschen zu halten, einzeln oder auch zusammen. Wenn die Eltern die erste Berührungsangst überwunden haben, beginnen sie meist von selbst, das Kind zu umarmen und liebkosen. «Das gibt mir die Möglichkeit, die Emotionen mit der Kamera festzuhalten», sagt die Fotografin. So entstünden sehr persönliche und individuelle Familienfotos, «die einzigen mit diesem Kind».
Wie hält Dalia Fichmann die Emotionen aus? Sei sie am Fotografieren, konzentriere sie sich auf die Arbeit und könne ihre Gefühle beiseiteschieben. «Doch wenn ich am Computer sitze, die Bilder betrachte und bearbeite, kommen mir manchmal schon die Tränen.» Sollte es ihr einmal doch zu nahe gehen, kann sie sich mit Kolleginnen und Kollegen der Stiftung «Dein Sternenkind» austauschen.
Viel Dankbarkeit erhalten
Dalia Fichmann überreicht die Fotos immer auf die gleiche Art und Weise. Sie legt ein paar ausgedruckte Fotos und einen USB-Stick mit einer grösseren Auswahl an Bildern in eine schöne Schachtel. Dieser legt sie auch den Stern oder das Herz bei, das abgebildet ist.
«Die Eltern können so wählen, wann sie bereit sind, die Fotos ihres Sternenkindes zu betrachten.» Einige würden die Bilder sehnlichst erwarten, andere bräuchten Wochen oder Monate, bis sie die Schachtel öffneten.
Achtung: Die folgende Bildstrecke enthält Fotos von Sternenkindern. Klicken Sie nur weiter, wenn Sie diese sehen möchten.
«Ich erhalte für die Fotos enorm viel Dankbarkeit und Anerkennung», sagt Dalia Fichmann. Die Fotografin ist ansonsten auf Tierbilder und Actionfotos spezialisiert. Sie erhalte bei ihrer Arbeit für «Dein Sternenkind» enorm viel zurück. «Das ist sehr schön und berührend. Deshalb mache ich es auch.»
Sie hat vor vier Jahren auf einen Aufruf der Stiftung hin angefangen, Sternenkinder zu fotografieren. «Meine Motivation ist es, anderen Menschen, denen es weniger gut geht als mir, etwas zu geben», sagt sie.
Immer noch ein Tabuthema
«Unsere Dienstleistung wird zwar immer bekannter», sagt Dalia Fichmann. Das zeigen auch die Zahlen. Als die Stiftung 2016 mit der Dienstleistung startete, gab es gut 330 Einsätze von Fotografinnen und Fotografen in den drei Ländern. Letztes Jahr waren es über 4100.
Sie findet, dass alle Eltern die Möglichkeit haben sollen, ein Foto ihres verstorbenen Neugeborenen zu erhalten. Leider würden noch nicht alle Hebammen, Spitäler und Geburtsbegleiterinnen die Dienstleistung kennen. «Das ist bedauerlich», sagt sie. Gerade kürzlich habe sie eine Mutter getroffen und erfahren, wie schmerzlich es für sie sei, dass sie kein Foto ihres verstorbenen Kindes besitze.
Sternenkinder gibt es mehr, als die Gesellschaft wahrnimmt. Denn sie seien immer noch ein Tabuthema, sagt die Fotografin. Allein letztes Jahr sind in der Schweiz über 500 Kinder tot geboren worden oder in den ersten sieben Tagen nach der Geburt verstorben, wie das Statistische Amt kürzlich bekannt gegeben hat. Die Statistik erfasst jedoch erst Kinder ab der 22. Schwangerschaftswoche. Die Fotografinnen und Fotografen von «Dein Sternenkind» werden auch zu viel kleineren gerufen.
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