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Essay von «Vogue»-Kolumnistin
Die Ehrenrettung der Tussi

Die Frankfurter Buchmesse ist eine internationale Buchmesse, die jährlich im Oktober auf dem Gelände der Messe Frankfurt stattfindet. Foto: Jovana Reisinger, Schriftstellerin, Filmemacherin und bildende Künstlerin beim Deutschlandfunk Kultur-Talk *** The Frankfurt Book Fair is an international book fair held annually in October at the Frankfurt Fairgrounds Photo Jovana Reisinger, writer, filmmaker and visual artist at Deutschlandfunk Kultur Talk
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In Kürze:
  • Jovana Reisingers Essay vermischt persönliche Erlebnisse mit gesellschaftlichen Kommentaren.
  • Reisinger beschreibt ihren Aufstieg von einem Arbeiterkind zur Starkolumnistin.
  • Das Buch kritisiert die Oberflächlichkeit von Glamour und High Society scharf.
  • Der Text wird als politisch motivierter Stream of Consciousness beschrieben.

Es kommt eher selten vor, dass man sich wünscht, ein Essay wäre ein Roman geworden. Meistens ist es ja umgekehrt, wenn in auffällig unnatürlichen Dialogen das Patriarchat verhandelt wird, der Plot im Grunde ein wütender Leitartikel sein könnte und am Ende nicht viel mehr bleibt als ein moralischer Nachgeschmack. Beim dritten und neuen Buch namens «Pleasure» von Jovana Reisinger, ein «Manifest», das man vorsichtig als «Essay» normiert, ist es andersherum. Die Szenen aus der Kultur-Society, gepaart mit der Geschichte einer jungen, klugen, Date-freudigen Aufsteigerin, hätten einen ganzen Helmut-Dietl-haften, champagnerspritzigen Roman hergeben können.

Diese Romansehnsucht füttert Reisinger, die 2021 mit dem Roman «Spitzenreiterinnen» bekannt wurde, mit einem grandios erzählten ersten Kapitel. In einer österreichischen Dorfwirtschaft 1999 bestaunen die Gäste gemeinsam die Sonnenfinsternis, während die Küchenhilfe sich nach getaner Arbeit versteckt, weil sie glaubt, dass jetzt die Welt untergeht. Als die Gäste nach der Sonnenfinsternis in die Wirtschaft strömen und die Küchenhilfe bemerkt, dass die Welt, obwohl gerade untergegangen, immer noch dieselbe Enttäuschung ist, rastet sie aus, fordert den selbst gebrannten Schnaps, mit dem sie sich mit den anderen Gästen in die Besinnungslosigkeit säuft. Wahnsinn, Glaube und Unglaube auf wenigen Seiten – man versteht die Poesie dieses Exzesses, ohne dass es eines weiteren expliziten Wortes bedarf.

Eine reiche Frau fragt beim Filmfest, was «die Prostituierte» hier mache

Allerdings folgt auf den restlichen Seiten ein «Manifest». Für «den Glamour, eine Lanze für das Rumliegen, die Völlerei, den Kitsch», schreibt Reisinger. Sie klopft den eigenen Werdegang vom «Arbeiter*innenkind» zu der «Starkolumnistin» ab, als die sie heute bezeichnet wird. Dafür brauche sie «317 Seiten und keine einzige weniger» – und das jedenfalls stimmt nicht.

Den Ausgangspunkt und Grosskonflikt des Buchs bildet eine Begegnung auf dem roten Teppich beim Filmfest München. Eine augenscheinlich reiche Frau fragt ihre Entourage mit Blick auf Jovana Reisinger und gut hörbar, was «die Prostituierte» hier mache. Von diesem abschätzigen Kommentar ausgehend, legt Reisinger los. Sie beschreibt ihren Weg vom österreichischen Dorf über den Plattenbau in München bis zum It-Girl-Status am roten Teppich, sie schreibt über die Macht von Dresscodes, wie sie sich mit Designerklamotten von der Arbeiterherkunft entkleiden wollte: «Updressing ist meine ultimative Beglaubigungsmethode, sie sagt, ich gehöre dazu, gehöre zu euch, gehöre nach oben.»

Dabei verschwimmen aber sämtliche Begriffe, werden austauschbar, wieder fallen gelassen. Was genau ist denn die «High Society»? Wer sind «die Reichen»? Wer sind die «oben»? Reisinger ihrerseits versucht nicht, Teil des Establishments zu werden, sondern eine angesehene Künstlerin. Die meisten angesehenen Künstler haben keine Ahnung, ob es gerade en vogue ist, eine Rolex zu tragen oder schon wieder nicht. Viele von ihnen sind grotesk schlecht angezogen. Man kann natürlich trotzdem herrlich nach oben schimpfen, von Sahra Wagenknecht bis Prinz Harry regt sich die halbe Welt über die Elite, die Superreichen auf. Es ist nur noch kein origineller Gedanke.

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Es scheint, als suche sich Reisinger den Feind, den sie für einen Konflikt braucht, bis ihr auffällt, dass sie ihn schon besiegt hat. Hier die «Reichen», da der kritisch fragende Literaturkritiker, die Kulturelite, der «Lover». An einer Stelle fragt sie, ob sie eine Birkin Bag von Hermès brauche, um dazuzugehören. Ja, die Birkin Bag ist das Sehnsuchtsobjekt schlechthin, aber wenn selbst die extrem wohlhabende, gut aussehende und angesagte Samantha Jones aus «Sex and the City» diese Tasche nicht haben kann – worüber zerbricht man sich den Kopf? Um mal Groucho Marx zu aktualisieren: Warum will man zu einem Club gehören, in den nicht mal Samantha Jones reinkommt?

Die Form des Texts, die zwischen tagebuchartigen Selbstbetrachtungen einer kämpfenden Autorin (alle Autoren kämpfen), Date-Anekdoten und Sekundärliteratur schwankt, könnte man als politisch motivierten Stream of Consciousness auslegen. Nur strömt der Text an wenigen Stellen und politisch so flach, dass die Forderungen, die man aus diesem Manifest für den Genuss fischt, unbrauchbar sind: «Die Reichen brauchen eine Reichensteuer, damit die Armen besser leben können.» Welche Reichen? Welche Steuer? Meint sie die Vermögenssteuer, die in Frankreich 2018 wieder abgeschafft wurde? Unter anderem, weil der ein oder andere Luxusgott ausgewandert ist?

Viele der bekannten Gedanken in «Pleasure» werden nicht weiterentwickelt, und in einer Zeit, in der kaum jemand mehr mit Krawatte im Büro erscheinen muss und wir in einer, was Dresscodes betrifft, viel freieren Zeit leben als etwa im Jahr 1964, in dem der berühmte Essay «Notes on Camp» von Susan Sontag erschien, wundert man sich über die ungleich grössere Larmoyanz in Reisingers 2024 erscheinendem Essay.

Natürlich will man alles über teure Dates in Hotels wissen, über schicke Bars

Dazu zitiert sie stichwortartig Sekundärliteratur, etwa Eva Illouz, um den Zusammenhang von Konsum und Romantik zu unterstreichen, als sie mit einem «Crush» ein Date in einem Berliner Feinkostgeschäft hat. Jetzt hat aber Illouz keine Glorifizierung käuflicher, romantischer Zeichen geschrieben, sondern weist in ihrem Buch «Der Konsum der Romantik» die grosse Widersprüchlichkeit unserer Sehnsüchte im Kapitalismus auf. In ihren späteren Büchern ordnet Illouz jene konsumistische, hypersubjektive Haltung der Liebenden sogar noch weitaus kritischer ein.

Spass macht das Buch, wenn Reisinger aus ihrem Leben erzählt. Sie ist inzwischen eine viel beachtete und gut gebuchte Autorin, hat in der FAZ eine Single-Kolumne und es sich mit viel Rosa und Strass zur ehrenwerten Mission gemacht, sich den Begriff «Tussi» zurückzuerobern («Die Tussi als wandelnde Grenzüberschreitung»). Womit sie diese allerdings zur Essenz ihrer Identität gemacht hat. Ihre Bücher werden an grossen Theatern inszeniert, sie betreibt einen gut gepflegten Instagram-Kanal, auf dem man wunderschöne Urlaubsorte, die schicksten Restaurants des Landes sowie perfekt manikürte Nägel betrachten kann – und dazwischen ein Link zu Weltproblem XY. Die Spannung in «Pleasure» funktioniert über eine ähnlich ungesunde Lust am Voyeurismus, natürlich will man über Dates in alten Hotels lesen, den besten Bars Deutschlands näherkommen. Schöne Orte, schöne Menschen, schöne Kleider, Sex, her damit.

Nur war das Grossartige an Literatur und insbesondere Essays unter anderem, dass man sich von den Gedanken und der Sprache fasziniert fragte: Wer hatte wohl diese guten Ideen, diese klugen Gedanken? Und sind sie auch für mich gültig? Im Geheimnis lag etwas Ermutigendes, etwas Gerechtes. Ein Manifest hingegen, das über einen hoch individualisierten, inszenierten, wenn auch unleugbar faszinierenden Lebensstil funktioniert, für den die allerwenigsten die finanziellen oder sozialen Ressourcen haben (Wer hat spontan 15 Freundinnen zur Hand, die einen auf eine Premierenparty eskortieren?), verliert den gesellschaftlichen Anspruch, den Manifeste haben sollten. Was bleibt, ist eine gute Geschichte. Und die Lust auf Champagner.

Jovana Reisinger: Pleasure. Park/Ullstein 2024. 320 Seiten, ca 35 Franken.