20. Kriegstag«Es ist unsere Pflicht, dort zu sein, wo Geschichte geschieht»
Mitten im Krieg reisen die Regierungschefs von Polen, Tschechien und Slowenien ins belagerte Kiew. Mit welchem Ziel? Über einen Besuch mit grossen Risiken, der ein mehr als ungewöhnliches Statement ist.
Es ist ein spektakuläres Beharren auf der Einheit Europas und Ausdruck des persönlichen Mutes dreier europäischer Staatsmänner. Völlig überraschend haben die Ministerpräsidenten Polens, Tschechiens und Sloweniens am Dienstagmorgen bekannt gegeben, sofort in das von der russischen Armee belagerte Kiew zu fahren – mit dem Zug. Die ukrainische Hauptstadt wird seit zwei Wochen von der russischen Armee beschossen.
Auch in der Nacht vor der Reise der drei Regierungschefs waren Raketen und Granaten in der Millionenstadt eingeschlagen. Einen offiziellen Auftrag der Europäischen Union hatten die drei Politiker indes nicht. Sie fuhren dennoch. «In diesen umwälzenden Zeiten für die Welt ist es unsere Pflicht, dort zu sein, wo Geschichte geschieht», schrieb der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki vor der Reise auf Facebook. «Denn es geht nicht um uns, sondern um die Zukunft unserer Kinder, die es verdienen, in einer Welt frei von Tyrannei zu leben.»
Moskau dürfte über den Verlauf der Reise der Politiker informiert worden sein. Der Zug gilt zudem als ein noch immer halbwegs sicheres Verkehrsmittel im Kriegsgebiet: Die russische Armee beschiesst das ukrainische Schienennetz eher selten. Sie braucht es, um nach der Eroberung weiterer ukrainischer Gebiete eigene Truppen zu verlegen. Dennoch birgt die Zugreise grösste Risiken für die drei Regierungschefs. «Heute, am 20. Tag der bewaffneten Aggression Putins gegen die Ukraine (…), wollen wir den Ukrainern unsere Solidarität zeigen», schrieb Mateusz Morawiecki bei Reiseantritt.
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Der tschechische Premier Petr Fiala twitterte: «Ziel unseres Besuches ist es, die geschlossene Unterstützung der Europäischen Union für die Ukraine, für ihre Freiheit und Unabhängigkeit auszudrücken.» Aus Brüssel hiess es, man sei über die Reise informiert worden. Die Regierungschefs trafen am Abend in Kiew ein.
Von der Leyen konsultiert
In der ukrainischen Hauptstadt wollen sie den Präsidenten Wolodimir Selenski und seinen Premier Denis Schmihal treffen. Auch der polnische Vizeministerpräsident und Vorsitzende der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PIS), Jaroslaw Kaczynski, fuhr mit. Die Regierungschefs teilten mit, sie hätten vor der Reise die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, sowie EU-Rats-Präsident Charles Michel konsultiert. Den Reiseplan habe man beim Treffen in Versailles Ende vergangener Woche als eine Art gemeinsame Vermittlungsaktion gefasst.
Die Reise ist ein mehr als ungewöhnliches Statement dreier osteuropäischer Politiker. «Heute die Ukraine, morgen Georgien, übermorgen die baltischen Staaten, und dann kann meinem Land die Stunde schlagen», schrieb Morawiecki. Die drei Politiker reisen an, während Präsident Selenski, der als eines der Hauptziele der russischen Invasoren gilt, sich nur noch im Geheimen bewegen kann. Er zeigt sich dennoch immer wieder im Präsidentenpalast und an anderen Orten der Hauptstadt, um der eigenen Bevölkerung Mut zu machen. In der Stadt gilt ab Dienstagabend für 35 Stunden eine strikte Ausgangssperre, die Bewohner dürfen ihre Wohnungen nur verlassen, um sich in Luftschutzräume zu begeben.
Die Reise fällt in eine Zeit, in der Bewegung in die diplomatischen Bemühungen zur Beendigung des Konflikts gekommen ist. Nach Ansicht des ukrainischen Präsidentenberaters Olexii Arestowitsch könnte der Krieg gegen Russland aber noch bis Mai andauern. «Ich denke, wir sollten bis Mai, Anfang Mai, ein Friedensabkommen haben, vielleicht viel früher», sagte er. Doch das könnte Wunschdenken sein.
Kämpfe werden intensiver
Die Kriegsfronten haben sich derweil kaum verändert, aber die Kämpfe scheinen im ganzen Land an Intensität zuzunehmen. In der Region Riwne im Westen des Landes sollen bei einem Luftangriff auf einen Fernsehturm 19 Menschen getötet worden sein. Auch in anderen Regionen sind Fernsehtürme beschossen worden. Teil der russischen Kriegsstrategie scheint es zu sein, die mediale Infrastruktur der Ukraine zu zerstören.
Katastrophal ist nach wie vor die Lage in der eingekesselten Stadt Mariupol im Osten des Landes. Ein seit Tagen geplanter Flucht- und Versorgungskorridor aus der Stadt ist wieder nicht zustande gekommen, obwohl einzelnen Einwohnern mit privaten PW die Flucht gelungen sein soll. Ein bereitstehender Konvoi mit Hilfsgütern wartet seit drei Tagen auf einen sicheren Weg in das abgeschnittene Gebiet. Nahrungsmittel, Wasser und Medikamente sind knapp, der Strom ist ausgefallen, und die Hafenstadt wird weiter von Russland bombardiert.
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