Freitagsgebet in der Hagia Sophia Erdogan hat sich seinen Kindheitstraum erfüllt
Zehntausende beteten erstmals in Istanbul vor der Hagia Sophia, die vom Museum zur Moschee umgewandelt wurde. Für den Präsidenten ein grosser Erfolg – doch er dürfte noch ganz anderes im Sinn haben.
Kemal Uyar ist seit dem Morgen da. Uyar ist immer da, wenn sein Präsident ruft: Er war da in der Putschnacht des 15. Juli 2016, als der Staatschef das Volk aufforderte, sich den Panzern in den Weg zu stellen, und er ist heute da, weil Recep Tayyip Erdogan die Muslime zum Freitagsgebet in der Hagia Sophia bittet. Uyar trägt den Orden am Jackett, er hat ihn bekommen, weil er in der Putschnacht verletzt worden ist. Der 56-Jährige steht vor dem Zugang zur byzantinischen Kirche. Uyar sagt nicht viel, aber eines ist ihm wichtig: «Wir folgen Erdogan bis in die Ewigkeit.» Nicht weit von ihm steht Murat in der Sonne, er hängt sich ein feuchtes Tuch über den Kopf. Er ist aus Aserbeidschan angereist, für den Langbärtigen ist Erdogan «der Vater der islamischen Macht».
Zehntausende sind gekommen
Auf dem Vorplatz des 1500 Jahre alten Baus stehen vor allem Männer, meist bärtig, viele in Turban und in islamischer Tracht: Einige sehen aus, als seien sie einem Filmset über die Eroberung Konstantinopels 1453 entsprungen. Hinter der Absperrung beginnt das Gedränge, Zehntausende sind gekommen, um am Gebet teilzunehmen, die Altstadt von Istanbul rund um die Hagia Sophia ist dicht. Während draussen die Massen «Allahu Akbar» rufen, Gott ist am grössten, wird drinnen der Koran zitiert; die Fresken und Mosaike der einstigen christlichen Kirche sind wieder mit Tüchern verhängt.
Erdogan und die mehreren Hundert geladenen Gäste, alle mit Mund-Nasen-Schutz, hören die Freitagspredigt und beten. Doch vorher geschieht Aussergewöhnliches: Der Präsident selbst steht auf und rezitiert mit einem weissen Käppchen auf dem Kopf und einem Mikrofon in der Hand über Lautsprecher für die Türken und die Welt singend aus dem Koran. Damit hatte wohl keiner gerechnet.
Nur ein Ablenkungsmanöver?
Vor allem von Islamisten wurde die Umwandlung der Hagia Sophia seit Jahrzehnten gefordert. Erdogan indes hatte stets abgewiegelt, seine vermeintliche Trumpfkarte nicht ausgespielt. Warum jetzt? Die Aktion solle die Türken vom gegenwärtigen ökonomischen Desaster ablenken, meckert die Opposition. Die Wirtschaft stürzt ab, Arbeitslosigkeit und Inflation steigen, Corona macht alles noch schlimmer, Erdogans Rückhalt bröckelt spürbar.
Auch wenn weit mehr als 50 Prozent der Türken in Umfragen über alle Parteigrenzen hinweg seine Hagia-Sophia-Politik begrüssen, sagt doch fast die Hälfte, der Populist wolle nur von Problemen ablenken. Und zugleich der Welt – auch das lenkt von der Innenpolitik ab – die Allmacht der Türkei beweisen.
An nationalem und religiösem Kitsch fehlt es nicht
An Gefühligem, an nationalem und an religiösem Kitsch, durfte es bei alldem nicht fehlen. In dem für Erdogans Politikstil typischen Mix aus nationalen und islamischen Reizen wurden überall riesige türkische Flaggen gehisst, während das Presse- und Kommunikationsamt ein Video veröffentlichte, in dem ein kirgisisches Mädchen von der «Sehnsucht aller türkisch-muslimischen Völkerschaften nach der Hagia Sophia» singt. Es folgten Lieder einer Bosniakin und anderer Musliminnen aus aller Herren Ländern.
Auf Twitter schrieb der Präsident: «Hagia Sophia, die Winde sollen wehen unter Deiner Kuppel. Du gehörst uns seit Beginn der Zeit, und wir gehören Dir.» Ein paar Tage früher hatte der Staatschef die islamische Welt wissen lassen, dass seine Entscheidung eine weltweite «Wiedergeburt» des Islam bedeute und ein grosser Schritt zur «Befreiung» der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem sei. Mehr Provokation und mehr an Führungsanspruch geht schwer.
Mit dem Freitagsgebet unter den Augen der Welt dürfte Erdogan aber auch ein persönliches Lebensziel verwirklicht haben: in der Hagia Sophia zu beten. «Ein Kindheitstraum geht in Erfüllung», sagte er jüngst. Der Staatschef stammt aus einer ebenso armen wie strenggläubigen Familie. Seit den ersten Gehversuchen als Politiker in der Nachwuchsorganisation des Erzislamisten und späteren Premiers Necmettin Erbakan in den Achtzigerjahren lässt er die Türken wissen, sie sollten ein Leben «rund um die Moschee» führen.
Wegen eines islamistisch verorteten Gedichtzitats sass er, damals bereits Bürgermeister von Istanbul, Ende der Neunzigerjahre kurz im Gefängnis. Die da noch streng laizistisch orientierte Justiz hatte ihn hinter Gitter gebracht. Was Erdogan zitiert hatte? «Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.»
Das alles gehört zu den Facetten eines Mannes, der Tage vor dem ersten Freitagsgebet persönlich die Verlegearbeiten des angeblich von ihm selbst ausgesuchten und bezahlten, 2350 Quadratmeter grossen, türkisgrünen Teppichs kontrollierte, mit dem der 1500 Jahre alte Marmorboden bedeckt wird, auf dem einst die byzantinischen Kaiser gekrönt wurden.
Ein Symbol für den Sieg über das Christentum
Die Hagia Sophia steht neben ihrer Bedeutung für die christliche Orthodoxie und ihrem kunsthistorischen Wert vor allem für den Sieg der Osmanen über die Byzantiner – für den Sieg des Islam über das Christentum. Seit knapp 600 Jahren ist das Bauwerk aber keine Kirche mehr. Der Schlag, den Erdogan führt, zielt nicht auf die kleinen, politisch unbedeutenden christlichen Minderheiten in der Türkei. Ziel sind die Säkularen, die Erben Kemal Atatürks. Die Säkularen bilden den Kern der Opposition gegen Erdogan.
Wie hatte Erdogan gesagt? «Die Hagia Sophia wird von den Ketten der Sklaverei befreit.» Gemeint war das vom rücksichtslosen Reformer Atatürk verordnete Dasein der wichtigsten Osmanen-Moschee als schnödes Museum: mit Gebetsverbot, Eintrittskarte und Touristinnen in kurzen Röcken. Mit Grund sagte der Vorsitzende der Atatürk-Partei CHP, dass er der Einladung zum Gebet nicht folge, weil damit «die Religion politisiert» werde.
Offen bleibt die Frage, was Erdogan will: die Einbeziehung der islamisch-osmanischen Vergangenheit in eine moderne türkische Demokratie? Oder einen autoritären Staat, geführt von einem fast allmächtigen Präsidenten, einem zweiten, diesmal neoosmanisch denkenden Atatürk? Bekennt er sich innerlich zu seinem berüchtigten Satz von 1998: «Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind.» Murat Belge, der an der Bilgi-Universität in Istanbul lehrt, warnte: «Die Umwandlung der Hagia Sophia bringt die Türkei näher an das Gesellschaftsmodell, das Erdogan im Kopf hat.» Am Ende stehe «das Ziel eines islamisierten Einparteienstaates». Ob das wirklich stimmt? Das muss sich zeigen. Vorläufig wird erst einmal auf Erdogans türkisgrünem Teppich gebetet.
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