Unikat in der SchwingerszeneEr wurde Fettsack genannt – und wehrte sich mit den Fäusten
Tiago Vieira ist Portugiese, bewacht im Beruf Schwerverbrecher, hat sich für den Sport schon hypnotisieren lassen – und ist mit 160 Kilo Kampfgewicht das Schwergewicht in Zwilchhosen.
Geschwungen wird auf dem Weissenstein, dem Solothurner Hausberg, rund 5000 Leute schauen zu, und einem Fan haut es den Nuggi raus. Er beschwert sich bei Tiago Vieira, diesem Koloss von einem Schwinger, mit Oberarmen wie Baumstämmen. So wie er sich benehme, gehöre es sich nicht, meint der Zuschauer. Im Schweizer Nationalsport habe man sich gefälligst anständig zu verhalten. Nun, Vieira ist weder Flegel noch Filou, vielmehr kann er mal wieder sein südländisches Temperament nicht zügeln. Er verwirft die Hände, motzt und hadert, staucht die Kampfrichter zusammen. Als er einen Brief erhält von einem Unbekannten und aufgefordert wird, damit aufzuhören, weiss er: Es muss sich etwas ändern.
Der heissblütige Portugiese in ihm drückt aber nach wie vor durch. Im Sägemehl etwa, wenn er auf Teufel komm raus schwingt, ohne taktisches Kalkül, und deswegen regelmässig ausgekontert wird. «Ich bin so», sagt der 30-Jährige, «ich schwinge offensiv und aggressiv – bei mir ist es nie langweilig.» Auf dem Schwingplatz müsse er sich zusammenreissen, um die Emotionen zu kontrollieren. «Ich wäre manchmal gerne ein Tennisspieler, dann hätte ich einen Schläger zum Wegschmeissen», sagt er schmunzelnd.
Wie ein Chinese auf dem Lauberhorn-Podest
Es ist ein Mittwochmittag in Aarau, als Treffpunkt dient ein Laden etwas ausserhalb des Stadtzentrums. Tiagos Vater Domingos Vieira steht an der Theke, dunkler Teint, Edelweisshemd. Er steht für die zwei Welten, die sich hier auf wenigen Quadratmetern vermischen. An der Wand hängen portugiesische Flaggen und Bilder des Fussballteams Benfica Lissabon, daneben steht eine Holzskulptur, die einen Schwinger abbildet.
Auch die 15 Kränze und diverse Glocken werden präsentiert, die sich der Sohn ergattert hat. Im Mix aus Bistro und Supermarkt gibt es derweil lauter portugiesische Spezialitäten zu kaufen, Weiss-, Rot- und Portweine, Kaffee, Oliven, Sardellen, Wurstwaren.
Seit 40 Jahren schon lebt Domingos Vieira in der Schweiz, an und für sich hatte er nach ein paar Monaten heimkehren wollen, aber wegen der Frauen sei er geblieben, sagt er mit dem Schalk, der den Vieiras eigen ist. Vieira junior ist in der Schweiz geboren. Nur den Pass besitzt er bis heute nicht, es sei halt immer etwas dazwischengekommen, und nun brauche er ihn auch nicht mehr, sagt er. Vieira gehört zum einen Prozent der Schwinger mit Migrationshintergrund. Nach der Schlussgangteilnahme am Basellandschaftlichen 2014 schrieb ein Magazin: «Ein Portugiese in Zwilchhosen mit Siegchancen – das ist vergleichbar mit einem Chinesen, der am Lauberhorn aufs Podest fährt.»
Als Bub hatte Vieira Fussball gespielt. Er gab den rustikalen Verteidiger, entweder der Ball oder der Gegenspieler sei an ihm vorbeigekommen, aber nie beides, sagt er. Nach ein paar Partien im Nachwuchs des FC Küttigen war Schluss. Der Wrestling-Fan nahm an einem Schwinger-Schnuppertraining teil, neun Jahre alt war er, und die Kollegen staunten. «Sie bezeichneten mich als Bauern, fragten, was ich in diesem Bauernsport wolle», erinnert er sich. In der Nordwestschweiz sei der Schwingsport nicht derart angesehen wie etwa im Bernbiet, wo die besten Schwinger fast wie Rockstars verehrt würden, sagt Vieira.
Früher wehrte er sich mit Fäusten
Doch auch der Aarauer hat seine Anhänger, nicht zuletzt in der zweiten Heimat Portugal. Den Verwandten hat er schon Videos geschickt von seinen Kämpfen, und so wissen sie mittlerweile sogar auf der Iberischen Halbinsel zumindest ungefähr, worum es sich beim Schwingen handelt. Fünf kleinere Feste hat Vieira gewonnen, dreimal bereits an einem Eidgenössischen teilgenommen. Und obwohl er die traditionellen Begleiterscheinungen wie Jodeln und Fahnenschwingen «einfach geil» findet, sagt er im Gespräch auch, er passe nicht so ganz in die Schwingerwelt. Ein bisschen zu laut sei er wohl, zu unangepasst vielleicht auch. Vieira sagt: «Auf jeden Fall nehme ich kein Blatt vor den Mund.»
Das Schwingervolk denkt konservativ, aber es öffnet sich. Es hat ein paar dunkelhäutige Schwinger gegeben, Curdin Orlik hat sich zu seiner Homosexualität bekannt, und längst ist da auch der eine oder andere Athlet, der politisch eher den linken als den rechten Pol priorisiert. Toleranter sei die Szene, sagt Vieira, noch vor 20 Jahren sei das anders gewesen. Auch er hat ein paar abschätzige Sprüche zu hören bekommen, es hiess etwa, solch einen Namen brauche es auf dem Schwingplatz nicht. Als «Scheiss-Ausländer» wurde er aber bald nur noch spasseshalber bezeichnet, wenn er es im Training wieder mal allen gezeigt hatte.
Vieira ist es sich gewöhnt, aufzufallen. Als Bub war er immer der Grösste und Schwerste in seiner Klasse, mit 14 schon wog er 100 Kilo. «Ich wurde gehänselt und Fettsack genannt», erzählt Vieira. Er begann, Kontra zu geben, meistens mit den Fäusten. Auf dem Pausenplatz war er immer wieder in Raufereien verwickelt, beim Direktor und Sozialarbeiter ging er eine Zeit lang ein und aus, war mit ihnen per du. Vieira musste erst lernen, sich mit Worten zu wehren, und so ist aus dem Rabauken eine «Gmüetsmoore» geworden – eine von beeindruckender Statur.
Mit seinen knapp 160 Kilo, verteilt auf 193 Zentimeter Körpergrösse, ist er der schwerste Schwinger, selbst König Christian Stucki kann da nicht mithalten. Etwas abnehmen wolle er schon noch, sagt Vieira, der nun nach einem Ernährungsplan lebt, der täglich sechs Mahlzeiten mit insgesamt 2500 Kalorien vorsieht. Seine Masse ist Fluch und Segen zugleich. Segen, weil es besonders viel Kraft braucht, um ihn zu stürzen. Fluch, weil er weniger dynamisch ist, es ihm an Beweglichkeit mangelt.
Bäcker, Gerüstbauer, Türsteher, Gefängniswärter
In Vieiras Arbeitsalltag ist ein ordentliches Kampfgewicht Gewiss kein Nachteil. Im Nebenamt ist er als stellvertretender Sicherheitschef des FC Aarau tätig, hauptberuflich steht er als Vollzugsangestellter im Einsatz. Vieira kümmert sich um die Insassen in Untersuchungshaft, die 23 Stunden am Tag in einer Zelle verbringen. Vom einfachen Kriminellen bis zum Schwerverbrecher sei alles dabei, sagt er, «als Wärter brauchst du da eine dicke Haut. Ich darf keine Vorurteile haben, muss alle gleich behandeln. Und vor allem darf ich ihre Schicksale nicht an mich heranlassen.» In Schwingerkreisen heisst es spasseshalber, die Ausbruchsrate in Lenzburg sei seit Vieiras Anstellung signifikant gesunken.
Ohnehin versteht es Vieira, für Ordnung zu sorgen. Er arbeitete als Türsteher, überwachte ein Heim für Asylbewerber, stand für die Securitas an Eishockeyspielen im Einsatz. Man könnte ihn als Tausendsassa bezeichnen. Gelernt hat Vieira Bäcker-Konditor, die vielen Nachtschichten aber waren nicht mit dem Trainingsprogramm vereinbar. Eine Zeit lang arbeitete er als Gerüstbauer, fiel jedoch runter und machte sich die Schulter kaputt. Zudem verkaufte er Versicherungen und war im Aussendienst tätig.
Ihn prägten mehrere Schicksalsschläge
Nun arbeitet Vieira quasi im 120-Prozent-Pensum. Mit wöchentlich vier bis fünf Schwingtrainings, Einheiten im Kraftraum sowie Massage und Physiotherapie sind die Tage ziemlich vollgepackt. Auch Mentaltraining gehört zum Programm, vor einigen Jahren liess sich der Sennenschwinger gar hypnotisieren. Es sei darum gegangen, sogenannte Anker zu setzen, mit dem Ziel, mentale Blockaden zu lösen. «Was mache ich vor dem Gang? Welche Rituale sind für mich wichtig? Ich fand heraus, was mir Sicherheit gibt.»
So engagiert Vieira heute ist, so genügsam war er noch vor einigen Jahren. Ihm haftete das Etikett des Trainingsfaulen an, der sein Talent verschleudert. Er ging gerne in den Ausgang, genoss das Leben. «Ich habe durch Schicksalsschläge Freunde verloren. Das hat mich geprägt und war für mich das Zeichen: Lebe im Jetzt, koste es aus.»
Früher posaunte Vieira überdies, Schwingerkönig werden zu wollen. Die Ziele hat er längst revidiert, in Pratteln will er nun den eidgenössischen Kranz gewinnen. Dafür ist eine Klassierung in den besten 15 bis 18 Prozent der Rangliste erforderlich, was eine sehr schwierige, aber nicht unrealistische Vorgabe ist. Sicher ist: Sollte er die Arena mit Eichenlaub auf dem Kopf verlassen, ist ein neuerlicher Gefühlsausbruch garantiert. Vieira sagt: «Dann könnte ich für nichts garantieren.»
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