Bundesrichter streiten in aller Öffentlichkeit
In einem umstrittenen Entscheid weitet das oberste Gericht den Familiennachzug für Ausländer aus. Dabei kommt es im Gerichtssaal zum Eklat.
Solche Szenen haben am Bundesgericht selbst langjährige Beobachter noch nicht erlebt. «Das reicht!», ruft Bundesrichterin Florence Aubry Girardin (Grüne), mitten im Vortrag ihres Richterkollegen Thomas Stadelmann (CVP). Sichtlich empört fordert Aubry den Vorsitzenden Hans Georg Seiler (SVP) auf, Stadelmann zum Schweigen zu bringen.
Es ist Freitagmorgen, die fünf Richter der zweiten öffentlich-rechtlichen Abteilung verhandeln einen brisanten Fall. Im Zentrum steht ein Ehepaar aus Kosovo: Es geht um die Frage, ob der 53-jährige Mann, der seit 1998 in der Schweiz lebt, seine 50-jährige Ehefrau jetzt noch in die Schweiz holen darf – nach 22 Jahren Fernbeziehung. Die Waadtländer Behörden haben das Gesuch durch alle Instanzen abgelehnt, darum hat das Ehepaar nun das oberste Gericht angerufen.
Doch im Gerichtspalast auf Mon Repos wird rasch klar: Es geht in diesem Fall nicht nur um ein Ehepaar aus Kosovo. Es geht um das Verhältnis von zweiter und dritter Staatsgewalt, um die Frage, wer in der Schweiz die Gesetze macht: Das Parlament und das Stimmvolk? Oder das Bundesgericht? An diesem Morgen – und das erklärt den Aufruhr im Gerichtssaal – streiten sich fünf Bundesrichter in aller Öffentlichkeit, ob sie eigentlich noch Rechtsprechung machen. Oder bereits Politik.
Unaufgeregt, aber scharf
CVP-Mann Stadelmann lässt sich durch Aubrys Zwischenrufe nicht stoppen. Unaufgeregt, aber inhaltlich überdeutlich wirft er seinen Richterkollegen vor, sich selber zum Gesetzgeber aufzuschwingen. Statt das Gesetz zu respektieren, würden sie «ihre eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen» durchsetzen. «In kleinen Schritten» würden sie das Ziel verfolgen, «die Rechtslage ihren eigenen Ansichten anzunähern».
Im Endeffekt, so kritisiert Stadelmann, würden so nicht mehr das Parlament und das Volk entscheiden, welche Regeln in der Schweiz gelten. Sondern eine Mehrheit von lediglich drei Bundesrichtern in Lausanne. Unterstützt wird Stadelmann von SVP-Mann Seiler. Auch er wirft seinen Richterkollegen vor, die Gewaltentrennung zu missachten.
Doch die beiden stehen auf verlorenem Posten. Sie unterliegen mit zwei zu drei Stimmen gegen die Grüne Aubry, den SP-Richter Andreas Zünd und den SVP-Vertreter Yves Donzallaz. Diese Dreiermehrheit beschliesst, den Fall zur Neuberurteilung an die Waadtländer Migrationsbehörden zurückzuweisen. Diese haben nach dem Verdikt des Bundesgerichts nun nicht mehr viel Spielraum: Sie werden die Einreise der Ehefrau wohl bewilligen müssen – obwohl das Ehepaar alle Fristen für den Familiennachzug längst verpasst hat.
Für die Mehrheit der Richter leitet sich dieser Entscheid aus der bisherigen Rechtsprechung ihres Gerichts ab. Bereits im Mai 2018 hat die gleiche Kammer in fast gleicher Zusammensetzung (ebenfalls mit 3 zu 2) einen anderen Leitentscheid gefällt. Sie kam damals zum Schluss, dass Inhaber einer Aufenthaltsbewilligung (B-Ausweis) nach rund 10 Jahren einen weitgehenden Rechtsanspruch auf Verlängerung haben.
«Wenn man solche Fragen nicht in einer öffentlichen Urteilsberatung debattieren kann, wo dann?»
Auf diesem Entscheid baut - unter anderem - nun das neue Urteil auf. Die Mehrheit des Gerichts argumentiert so: Wenn es für Inhaber eines B-Ausweises unter gewissen Bedingungen einen Rechtsanspruch auf Verlängerung gebe, dann gebe es auch einen Anspruch auf Familiennachzug. Dies, obwohl es im Gesetz ausdrücklich heisst, dass der Familiennachzug von den Kantonen nicht bewilligt werden muss , sondern bloss kann . Eine Kannbestimmung, so argumentierte SP-Mann Zünd, bedeute aber noch lange nicht, dass die Behörden willkürlich entscheiden dürften.
Die Mehrheit argumentiert in beiden Urteilen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), konkret dem Artikel 8. Darin heisst es: «Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens.» Zwar bestritt Donzallaz nicht, dass das Ehepaar die gesetzlichen Fristen verpasst habe. «Wichtige familiäre Gründe» würden aber den Nachzug der Ehefrau trotzdem rechtfertigen.
Unbestritten ist, dass der Kosovare ein schweres Schicksal zu tragen hat. 1998, nur wenige Monate nach seiner Ankunft in der Schweiz, erlitt er einen schweren Arbeitsunfall. Er hatte einen Schädelbruch und lag mehrere Tage im Koma. Seitdem ist er arbeitsunfähig und lebt von der IV sowie von Ergänzungsleistungen. Später kamen schwere psychische Probleme dazu. In dieser schwierigen Situation, so argumentiert ein ärztliches Zeugnis, könne die Ehefrau ihn unterstützen. Sonst müsse der Mann vielleicht bald ins Pflegeheim.
Die persönliche Tragik in dem Fall anerkannten auch Stadelmann und Seiler. Sie schlossen darum nicht aus, der Frau die Einreise nachträglich zu erlauben – im Sinne einer Ausnahme, wie sie im Gesetz ausdrücklich vorgesehen ist. Zuvor aber müssten die Waadtländer Behörden den umgekehrten Weg wenigstens prüfen: Kann der Kosovare nicht auch nach Kosovo zurückkehren? Doch diese Option wollte die Mehrheit der Richter nicht einmal in Erwägung ziehen. Sie stimmten dagegen, die Rückkehr nach Kosovo auch nur zu «prüfen». Ein solches Ansinnen, argumentierte SP-Mann Zünd, sei nicht der Wille des Parlaments. «So zynisch ist der Gesetzgeber nicht.»
Zünd ist derzeit eine ganz heisse Personalie in der Schweizer Justiz: Er ist einer von drei Kandidaten, die der Bundesrat dem Europarat für die Nachfolge der Schweizer Richterin Helen Keller am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg vorgeschlagen hat. Die Wahl findet voraussichtlich im Juni statt.
Anders als Zünd und seine Mitstreiter halten Seiler und Stadelmann den Verweis auf die Menschenrechtskonvention für inakzeptabel. Es gebe kein einziges Urteil des EGMR, welches das Bundesgericht zwingen würde, den Nachzug der Ehefrau zu bewilligen, sagte Seiler. Die Mehrheit des Gerichts gehe darum ohne jede Notwendigkeit über die Rechtsprechung von Strassburg hinaus und entwickle die Menschenrechtskonvention so selbstständig weiter.
Schwere Vorwürfe nach der Sitzung
Seiler wies darauf hin, dass es sich im vorliegenden Fall um einen Grundsatzentscheid handle, der den Familiennachzug auch für viele weitere Fälle erleichtern werde. Diese Einschätzung bestritt keiner der drei Richter der Mehrheit.
Die Kritik, sie würden Politjustiz betreiben, wiesen sie aber scharf zurück. Stadelmanns «persönliche Attacken» seien «lamentabel» und hätten mit dem vorliegenden Fall nichts zu tun, kritisierte SVP-Mann Donzallaz. Die drei Richter der Mehrheit werfen den zwei unterliegenden Richtern vor, ihnen eine Falle gestellt zu haben. Sie hätten die öffentliche Beratung des Urteils nur verlangt, um sie vor der Öffentlichkeit und der Presse diskreditieren zu können.
Nach zweieinhalb Stunden schliesst Seiler die turbulente Verhandlung. Sofort wird er von Zünd, Aubry Girardin und Donzallaz bestürmt. Die drei machen ihrem Vorsitzenden schwere Vorwürfe. Von Ferne bekommt das Publikum Wortfetzen wie «Das ist unzulässig» mit. Während die drei Richter noch mit ihrem Vorsitzenden streiten, hat CVP-Mann Stadelmann den Saal bereits verlassen. Anders als seinen drei Kollegen ist ihm keinerlei Erregung anzumerken. Zu einer Gruppe von Umstehenden meint er achselzuckend: «Wenn man solche Fragen nicht in einer öffentlichen Urteilsberatung debattieren kann, wo dann?»
In einer ersten Version dieses Artikels war eine Aussage von Florence Aubry Girardin versehentlich einem anderem Mitglied des Richtergremiums zugeordnet worden.
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