Shinzo Abe erschossenEiner der prägendsten Politiker Japans
Unter dem früheren Premier Shinzo Abe wirkte Japan selbstbewusster und weltoffener denn je. Jetzt fragt sich das Land: Warum diese Tat?
Japans früherer Premierminister Shinzo Abe ist Opfer eines Attentats geworden (zum Bericht). Der Anschlag ereignete sich am Freitag gegen halb zwölf Uhr mittags Ortszeit in der Stadt Nara im Süden Honshus. Abe hatte dort am Bahnhof Yamato-Saidaiji eine Wahlkampfrede für die rechtskonservative Regierungspartei LDP zur Oberhauswahl am Sonntag gehalten. Zwei Schüsse wurden abgefeuert, mindestens einer traf Abe von hinten aus kurzer Distanz. Die Feuerwehr teilte zunächst mit, man habe ihn wiederbelebt und mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus gebracht. Am frühen Abend meldete die LDP dann, dass Shinzo Abe seinen Verletzungen erlegen sei.
Der mutmassliche Schütze ist ein 41-jähriger Einwohner von Nara. Sicherheitskräfte überwältigten ihn nach der Tat. Die Tatwaffe soll ein Gewehr gewesen sein, dessen Lauf mit Klebeband umwickelt war.
Premierminister Fumio Kishida, der in Yamagata unterwegs war, kehrte sofort noch Tokio zurück. Eine Taskforce wurde eingerichtet. Kabinettschefsekretär Hirokazu Matsuno sagte in einer ersten Stellungnahme: «Was auch immer der Grund sein mag, barbarische Handlungen wie diese sind inakzeptabel und wir verurteilen sie aufs Schärfste.» Japans Aussenminister Yoshimasa Hayashi, derzeit beim G-20-Aussenminister-Treffen in Indonesien, richtete die «Besorgnis der Aussenminister anderer Länder» aus. US-Aussenminister Tony Blinken drückte seine Anteilnahme aus.
Abe hatte seine Partei zurück an die Macht gebracht
Shinzo Abe, 67, war einer der prägendsten japanischen Politiker der Nachkriegszeit. Von 2012 bis 2020 war er Premierminister, so lange am Stück wie kein anderer vor ihm. Er war auch schon von September 2006 bis September 2007 Regierungschef gewesen, aber seine Bedeutung hat vor allem mit seiner zweiten Amtszeit zu tun. Abe führte die LDP damals aus ihrer grössten Krise. Infolge diverser Skandale und des Lehman-Schocks hatte die Machtpartei 2009 zum ersten Mal in ihrer Geschichte ihre Mehrheit im Parlament an einen Konkurrenten, die zentristische DPJ, verloren. Abe gab ihr als Vorsitzender neue Kraft und holte sie aus der Opposition zurück an die Macht.
Er schaffte das mit einem klaren nationalistischen Kurs und einer Politik, die sich mit sozialen Fragen eher nicht beschäftigte. Seine sogenannte Abenomics-Strategie verband lockere Geldpolitik mit konsequenter Wirtschaftsförderung und brachte dem Inselstaat in den Jahren des weltweiten Konjunkturhochs sachtes Wachstum.
Unter Abe wirkte Japan selbstbewusster und weltoffener denn je. Allerdings auch weniger selbstkritisch, wenn es um die schlecht aufgearbeitete Geschichte Japans als Aggressor und Partner Hitlerdeutschlands im Zweiten Weltkrieg ging. Für andere Länder interessierte sich Abe meistens dann, wenn er etwas von ihnen wollte. Die Olympischen Spiele 2020 wollte er zum Beispiel in Tokio haben, weil er sich davon einen Konjunkturanschub für sein Land versprach; dass sie letztlich wegen der Pandemie um ein Jahr verschoben wurden und wegen der Corona-Angst ausserdem ohne Auslandstouristen und Live-Zuschauer stattfinden mussten, konnte er natürlich nicht voraussehen.
Zu Russlands Präsident Wladimir Putin hielt Abe immer regen Kontakt, weil er hoffte, so die sogenannten Nördlichen Territorien zurückzubekommen, die südlichen Inseln der Kurilen vor Hokkaido, die Russland seit dem Zweiten Weltkrieg besetzt hält. Im Sommer 2020 trat Shinzo Abe zurück, offiziell wegen der chronischen Darmentzündung, die ihn schon 2007 zur Aufgabe gezwungen hatte. Er blickte damals auf sein Schaffen zurück und war dabei durchaus auch selbstkritisch. Am meisten bedauerte er allerdings, dass er es als Premierminister nicht geschafft hatte, den pazifistischen Artikel neun der Verfassung im Sinne eines wehrhafteren Japan zu verändern.
Seine Amtszeit war von diversen Korruptionsskandalen geprägt. Abe überstand sie immer als der angeblich von nichts wissende Alpha-Politiker. Aber natürlich machte ihn das nicht beliebter. Abe polarisierte. Und das tat er bis zum Schluss, denn zurückgezogen hatte Shinzo Abe sich keineswegs. Er ist in der LDP einflussreich geblieben. Mittlerweile führt er die Geschicke der grössten parteiinternen Gruppe, der sogenannten Hosoda-Faktion, und ist so der wichtigste Mehrheitsbeschaffer bei Personalfragen. Als im vergangenen Jahr sein glückloser Nachfolger Yoshihide Suga zurückgetreten war, trug er massgeblich dazu bei, dass sein ehemaliger Aussenminister, der eher zahme Fumio Kishida, LDP-Chef und somit auch Premierminister wurde – und nicht der gewandte, unberechenbarere Taro Kono.
Warum diese Tat? Was ist das Motiv?
Zuletzt allerdings sprach man vor allem von Kishidas Stärke, weniger von Abes Wirken hinter den Kulissen. Vor allem Abes Russland-Nähe war überholt. Nach Putins Angriff auf die Ukraine unterstützt Japan die Sanktionen der westlichen Welt gegen Russland und übernimmt damit mehr denn je auch gegen eigene Interessen Verantwortung. Prompt ist Kishida jetzt auf dem Weg, das zu schaffen, was Abe immer schaffen wollte: Die pazifistische Verfassung zu reformieren und Japan die Möglichkeit zu geben, sich mit eigenen Raketen gegen die Bedrohungen von aussen zu schützen.
Der Freitag verging in der Hoffnung, dass Abe überlebt. Um 17:03 Uhr japanischer Zeit wurde er für tot erklärt. Und man rätselte: Warum diese Tat? Was ist das Motiv? In Japan haben die Behörden keine Skrupel, Verdächtige beim Namen zu nennen. Deshalb wusste die Nation sehr bald, wie der mutmassliche Schütze heisst. Und dass er ein ehemaliges Mitglied der maritimen Selbstverteidigungsstreitkräfte ist. Am Nachmittag meldeten japanische Medien eine Aussage von ihm: Er sei mit Abe «unzufrieden» gewesen zu sein, habe aber «keinen Groll gegen seine politischen Überzeugungen» gehegt.
Im Inselstaat sind die Menschen normalerweise duldsam. Man fügt sich den Mechanismen der Kollektivgesellschaft und regt sie nicht zu sehr auf über die da oben in der Regierung. Die Schüsse von Nara zeigten, dass man selbst dem japanischen Frieden nicht trauen kann.
Fehler gefunden?Jetzt melden.