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Feministische Literatur
Eine Stadt feiert ihre vergessenen Heldinnen

«Die Anonymen» nennt die Künstlerin Hélène Becquelin ihre Zeichnung für das Buchcover von «100 femmes qui ont fait Lausanne».
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Frauen feiern Frauen mit Büchern: In Frankreich ist dieses Literaturgenre gerade extrem en vogue. «Les culottées» (Die Wagemutigen) und «Les héroïnes» (Die Heldinnen) heissen die derzeit bekanntesten Bücher der französischen Frauenliteratur. Dem Trend hat sich nun auch die Stadt Lausanne angeschlossen. Sie liess Historikerinnen und Feministinnen 100 historische Heldinnen porträtieren: Künstlerinnen, Frauenrechtlerinnen, Anarchistinnen, Wissenschaftlerinnen, Politikerinnen, Abenteurerinnen, Philanthropinnen und Pädagoginnen. «100 femmes qui ont fait Lausanne» (100 Frauen, die Lausanne geprägt haben) heisst das vor wenigen Tagen erschienene Buch.

Initiiert hat das Projekt Stadträtin Florence Germond (SP). Sie sagt: «Ich wuchs in den 1970er-Jahren auf und realisiere heute, dass es keine Literatur über exemplarische Frauenfiguren gab, an denen ich mich orientieren konnte. Mit dem Buch versuchen wir, wichtige Frauen postum zu rehabilitieren, und sorgen dafür, dass auch unsere Schülerinnen und Schüler wichtige Persönlichkeiten kennen lernen.»

Die Lausanner Stadträtin Florence Germond (SP) wuchs in den 1970er-Jahren auf und realisierte, dass es keine Bücher über exemplarische Frauen gab, an denen sie sich orientieren konnte.

Nur sehr wenige der porträtierten Frauen spielen in der lokalen, geschweige denn nationalen oder internationalen Erinnerungskultur eine tragende Rolle. Es gibt jedoch eine Ausnahme: Coco Chanel. Die Pariser Modeikone und Erfinderin des berühmten Parfum No. 5 liegt in einem Prunkgrab im Lausanner Friedhof Bois-de-Vaux begraben. Auf ihrem minutiös gepflegten Grab blühen bis heute das ganze Jahr über weisse Blumen. In Lausanne lebte Coco Chanel zwischen 1945 und 1954 und ab 1966 bis zu ihrem Tod im Jahr 1971. Im Hotel Beau-Rivage mietete sie sich eine Suite, verköstigte sich in den besten Bars und Restaurants der Stadt, trank mit Vorliebe Champagner und war in Privatkliniken an der Waadtländer Riviera ein gern gesehener Gast.

Coco Chanel sind im Buch nur einige wenige Zeilen gewidmet. Das ist durchaus gewollt. Anders als Chanel blieben andere Frauen trotz grosser Leistungen zumindest teilweise oder aber komplett im Schatten der von Männern dominierten und kontrollierten Geschichtsschreibung.

Frau verteidigt Frauen

Antoinette Quinche war eine von ihnen. Die Pfarrerstochter war die erste Juristin, der die Universität Lausanne 1923 den Doktortitel verlieh. Danach eröffnete sie eine Anwaltskanzlei und stellte sich in den Dienst benachteiligter Frauen. Sie verteidigte Frauen in Scheidungsfällen, bei Vaterschaftsanerkennungen und Arbeitsunfällen und sorgte dafür, dass Frauen bei der örtlichen Frauengewerkschaft kostenlose Rechtsberatungen bekamen. Auch dank Antoinette Quinches Einfluss entschieden die Waadtländer Männer am 1. Februar 1959 an der Urne, den Frauen das Stimm- und Wahlrecht zu geben. Eine Premiere in der Schweiz.

Alice Schnorf-Steiner schuf sich als Paläontologin ihren Platz in den von den Männern dominierten Naturwissenschaften.

Eine andere Pionierin war die 1904 geborene Paläontologin Alice Schnorf-Steiner. Auch die Naturwissenschaften waren einst eine Männerdomäne. Doch Schnorf-Steiner schuf sich ihren Platz. Dem kantonalen Museum für Geologie baute sie in den 1950er-Jahren eine umfangreiche und minutiös dokumentierte Sammlung mit versteinerten Artefakten auf. Als Lohn für ihre Arbeit ernannte sie die Waadtländer Gesellschaft für Naturwissenschaften zu ihrer Präsidentin. Über ihre Leidenschaft für Fossilien sagte Alice Schnorf-Steiner prophetisch: «Sie informieren uns über das, was zu allen Zeiten herumkroch, lange bevor der Mensch auftauchte. Und sie geben uns Einblick in das, was vielleicht mit dem Menschen und durch ihn verschwinden wird.»

«Die Gewerkschaften waren jahrzehntelang dagegen, dass Frauen in der Arbeitswelt Fuss fassten.»

Dominique Dirlewanger, Historiker

«Bürgerlich-intellektuelle Frauen hatten es einfacher, in ihrem Milieu ihren Platz zu schaffen», sagt der Lausanner Historiker Dominique Dirlewanger. «Schwieriger hatten es Frauen aus unteren sozialen Schichten, denn selbst die Gewerkschaften waren jahrzehntelang dagegen, dass Frauen in der Arbeitswelt Fuss fassten.» Deren Porträts gehören zu den berührendsten im Buch.

Etwa dasjenige über die 1923 geborene Akkordeonistin Denise Letourneur, die ihre Eltern im Jugendalter verlor, in einem Waisenhaus aufwuchs, das Akkordeonspielen aufgeben musste und später in Beziehungen wiederholt Opfer häuslicher Gewalt wurde. Nach schwierigen Jahrzehnten begann sie erst in den 1950er-Jahren wieder Akkordeon zu spielen, trat in den Lausanner Cafés auf, konnte sich damit ihren Lebensunterhalt verdienen, traf einen Mann namens Auguste und mit ihm die Liebe ihres Lebens.

Autorin, Journalistin, Filmemacherin: Die 2015 verstorbene Lausanner Intellektuelle Anne Cuneo besass tausend Leben.

Weil Denise Letourneurs Lebensgeschichte sie so berührte, schrieb die Lausanner Schriftstellerin Anne Cuneo gleich ein Buch über die Akkordeonistin. «Das Klavier der Armen: Das Leben von Denise Letourneur» nannte Cuneo ihr 1975 erschienenes Oeuvre. Natürlich gehört auch Cuneo zu jenen 100 Frauen, die Lausanne prägten. Auch sie war in einem Waisenhaus aufgewachsen, tat alles, um der Armut zu entgehen, und studierte schliesslich an der Uni Lausanne. Anne Cuneo hatte tausend Leben und tausend Berufungen: Sie war Journalistin, Publizistin, Übersetzerin, Dokumentarfilmerin, Regisseurin und Drehbuchautorin und auch in der Deutschschweiz bekannt.

Für Historiker Dominique Dirlewanger war schon immer klar: «Die Behauptung, man könne die Geschichte der Frauen nicht schreiben, ist falsch. Man muss nur nach den Quellen suchen und findet selbst über einzelne Frauen viel Material.» Für Stadträtin Florence Germond ist das Buch ein wichtiger Schritt hin zu einer neuen Erinnerungskultur. Sie freut sich, dass es bereits Stadtführungen gibt, an denen Lausannes Geschichte ausschliesslich anhand ihrer Frauen erzählt wird.

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