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Meinung

Kunst während der Pandemie
Eine nationale Tragödie

«We miss you»: Maja Beckmann, Schauspielerin am Schauspielhaus Zürich, im Krisen-Stream «Dekalog, sieben».
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Bravo! Die Kunst entdeckt das Publikum

Ach, wir werden vermisst. Wir alle. «We miss you», steht in diesen Tagen auf Plakaten überall in der Stadt Zürich. Nur diese drei Worte, eine etwas theatralische Liebeserklärung des Zürcher Schauspielhauses ans Publikum, das seit dem Lockdown nicht mehr ins Theater darf. Die Kunst, oft selbstverliebt, oft selbstgenügsam und eigentlich immer selbstbezogen, sehnt sich nach den Zuschauern, die sie – ja, wir erinnern uns noch gut! – zuweilen am liebsten ignorierte. Aber dies ist eben die Gnade der Krise: Sie schärft den Blick fürs Wesentliche, sie macht uns manchmal sogar klüger. Das gilt anscheinend selbst für die Kunst, für diese alte Diva. We miss you – einverstanden, das nehmen wir entgegen. Ein deutsches «Wir vermissen euch» hätte es allerdings auch getan.

Welche Schlappe: Fussball schlägt Kunst

Und umgekehrt? Vermisst das Publikum die Kunst? Katharina Thalbach, eine der besten deutschen Schauspielerinnen, sagt im aktuellen «Spiegel»: «Ohne uns Schauspieler drehen die Leute doch durch.» In der Schweiz zumindest war das auch in der zwölften Lockdown-Woche nicht festzustellen.

«Was vermissen Sie während des Lockdown am meisten?», wollten kürzlich die Tamedia-Redaktionen in einer Onlineumfrage wissen, an der über 10’000 Userinnen und User teilnahmen. Resultat: 50 Prozent der Befragten gaben an, «Kulturveranstaltungen» würden ihnen fehlen. Zum Vergleich: «Freunde und Verwandte treffen» vermissen 81 Prozent, «ins benachbarte Ausland reisen» 43 Prozent. Rund die Hälfte aller Menschen sehnt sich nach Kultur – ist das viel? Man kann es auch so sehen: Jeder Zweite kann sehr gut ohne Kulturevents leben, ohne Konzert, ohne Theater, ohne ins Kino zu gehen.

Politiker, Intellektuelle, am lautesten Kulturschaffende wiederholten in den letzten Wochen wie ein Mantra, Kultur sei ein «menschliches Grundbedürfnis», eine «Notwendigkeit», eine «Grundlage des Seins». Doch machen wir uns nichts vor: Auf eine breite Bevölkerung trifft das nicht zu. Sie will baldmöglichst ins Gartencenter und zum Coiffeur oder versammelt sich in der Illegalität, um Fussballspiele zu inszenieren; so geschehen in der Waadt. Ein Lederball mobilisiert im Lockdown offenbar mehr aufwieglerische Kraft als die gesamte Schweizer Kulturszene.

Homeoffice-Opus und Kurzarbeitskreativität

Oft ähnlich platt wie der Bildschirm: Streaming-Kunst aus dem Theater.

Selbstverständlich, die Krise hat viele von uns überfordert. Doch gesellschaftliche Systeme wie Wirtschaft, Wissenschaft, Politik oder Gesundheitswesen haben sich leidlich halten können, und vor allem: Sie bewähren sich als Teil eines Ganzen, einer Gemeinschaft. Die Kunst indessen gab in den letzten zwei Monaten zu oft eine traurige Vorstellung. Insbesondere die etablierten und hoch subventionierten Sparten flüchteten sich vor dem Virus und der Realität in den fernen Cyberspace, um von dort keimfreie Signale zu senden. Klassikkonzerte als Videokonferenz, Literaturlesungen als Livestream, alte Meister an virtuellen Museumswänden: Homeoffice-Werke, Kurzarbeitskreativität, bedauerlicherweise oft ähnlich platt wie die Bildschirme, auf denen das alles flimmert und flackert. Es schien, als könnte man den ganzen Tag lang irgendwelche Kunst-Streams empfangen. Aber natürlich tat sich das niemand an.

Dass Feuilletonisten, leider auch in dieser Zeitung, applaudierten und verlangten, die Kunst müsse über die Pandemie hinaus ihre Radikaldigitalisierung betreiben – in jeder Krise steckt eine Chance! –, zeigt, wie phrasenhaft und konformistisch der Kunstdiskurs in dieser Krise geführt wurde.

Der Verrat am Analogen

Ein Positionsbezug im öffentlichen Raum, ohne Stream und Subventionen: Corona-Graffito in der norwegischen Stadt Bryne.

Das Gegenteil hätte man sich gewünscht, das Gegenteil hätten wir gebraucht. Dass nämlich die Kunst ihre physische Kraft mobilisiert, sich zum Ereignis macht, das Analoge feiert und bewahrt. Eben gerade weil die Welt ins Digitale emigriert, nicht erst seit der Corona-Krise. Kunst ist nicht E-Learning, Remote-Working oder Cloud-Kommunikation, Kunst ist keine Kopie, sondern das Original.

Gewünscht hätte man sich, dass Künstlerinnen und Künstler, statt sich in Server-Farmen zu verschanzen, als Krisenplattform einen Balkon wählen; wie trostreich Gesang in eine Gasse hallen kann, das haben italienische Laiensänger zu Beginn der Pandemie hinlänglich bewiesen. Und gegen couragierte Positionsbezüge der Kunst im öffentlichen Raum hätten mit Sicherheit auch die hiesigen Seuchen-Regisseure vom BAG nichts einzuwenden gehabt. Nebenbei bemerkt: Hätten die Beatles 1969 für ihr Rooftop Concert auf dem Dach des Londoner Apple-Studios bei der Polizei um Erlaubnis nachgefragt, so hätte diese grosse Kunst nie stattgefunden.

Schliesslich, um uns noch den bildenden Künsten zuzuwenden: Gemälde lassen sich, ganz Lockdown-konform, auch in Schaufenstern ausstellen. Oder, noch besser, gleich an Hauswände pinseln. Rund um den Globus entstand so in den letzten Wochen grossartige Strassenkunst, die das Versagen von Corona-Managern wie Trump, Johnson oder Bolsonaro anprangerte. Der Altmeister des Fachs, der britische Künstler Banksy, bezeichnete Street-Art einmal als «kostenlose Kunst für jedermann, die zum Nachdenken anregt». Und das alles ohne Streaming und ohne Subventionen.

Die Systemkritik ist tot. Es lebe die Systemrelevanz!

Apropos Zeichensetzen, Intervenieren, Hinterfragen: Eine der zentralen Aufgaben der Kunst sei die Systemkritik – so behaupteten bisher Künstlerinnen und Künstler. Und heute? Heute redet die Kunstszene noch von Systemrelevanz, so wie es die Banken tun, die Airlines, die Landwirtschaft. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Niemand soll in diesem Land in wirtschaftliche Not gestossen werden, und Kulturschaffende haben Anrecht auf staatliche Krisenunterstützung, ohne Frage. Der Staat hat dafür 280 Millionen Franken bereitgelegt. Zwar meckerte die SVP erwartungsgemäss, aber selbst Kunstamateure, etwa Musik- und Theatervereine, erhalten 10 Millionen Franken. Unbesehen, ob es sich um systemrelevante oder systemirrelevante Darbietungen handelt. Das ist doch ein Grund zur Freude. Und man kann sich nicht vorstellen, dass die Kunst unser System noch jemals stürzen will.

Die Gretchenfrage und die neuen Radikalen

Wäre es wirklich schlimm, wenn nicht alle Kulturangebote am 8. Juni den Reboot schaffen würden? Wir werden sehen. Sicher ist: Ab dem 6. Juni geben unsere Landesväter die restriktiven Pandemie-Massnahmen auf, Kulturveranstaltungen mit bis zu 300 Personen sind wieder erlaubt. Aus dem Zürcher Schauspielhaus, dessen Personal uns so vermisst, ist dazu von Co-Direktor Benjamin von Blomberg zu hören: «Man muss unbedingt spielen. Und seis nur für 10 Leute! Wir sind bereit.» So viel bedingungslose Entschlossenheit, das lässt aufhorchen. Ein geradezu radikales Kunstverständnis. Applaus!