DS 9Eine Glaubensfrage
Für die einen ist sie praktisch unsichtbar, für andere wiederum die schönste Art, keinen Mercedes, BMW oder Audi zu fahren: die «Chefgöttin» DS 9 mit Plug-in-Hybrid, 360 PS und Allradantrieb.
Wenn der Markenname DS, kurz für «déesse», also Göttin steht, dann ist die Topversion des Flaggschiffs DS 9 mit der Bezeichnung E-Tense 360 4x4 keine geringere als die Chefgöttin herself. Allein ihre 4,93 Meter Aussenlänge und 2,90 Meter Radstand machen sie zur Herrscherin auf dem Olymp französischer Luxusautomobile und Verteidigerin der Grande Auto-Nation gegen das deutsche Premium-Establishment. Respekteinflössend sind aber auch ihre mächtige Front mit diamantförmigem Grill, mittig über die Haube laufendem Chromband sowie funkelnden LED-Elementen in den Scheinwerfern, während die Positionslichter in der C-Säule eine Reminiszenz an die unsterbliche «Ur-Göttin» Citroën DS aus den 1950ern bis 1970ern darstellt.
Ka-wumm! War das soeben ein Donnerschlag? Nein, nur das satte Geräusch, mit dem die schweren Türen ins Schloss fallen, ehe in dem mondänen Interieur hinter Doppelverglasung Ruhe einkehrt und die Sinne für andere Details geöffnet werden. Etwa die automatisch aus dem Armaturenbrett ausfahrende Uhr der französischen Edelmanufaktur B.R.M. – wie zur Erinnerung, dass die Zeit auch für Göttinnen nicht stillsteht.
Vornehme Sportlichkeit
So sorgt nicht etwa ein klassischer 6-Zylinder für standesgemässe Fahrleistungen. Sondern ein schlichter 1,6-Liter-Vierzylinderturbo, der in Kombination mit zwei Elektromotoren aber mächtige 360 PS Systemleistung erbringt und durch die Platzierung der zweiten E-Maschine an der Hinterachse Allradantrieb ermöglicht. Weitere Eckdaten lauten: 8-Gang-Automatikgetriebe, 520 Newtonmeter Drehmoment, 5,6 Sekunden von 0 auf Tempo 100, 250 km/h Spitze. Und eine elektrische Reichweite von bis zu 48 Kilometern pro Akkuladung, die allerdings genauso in den Bereich der Mythen und Legenden fällt wie der durchschnittliche Spritverbrauch von 1,9 Litern, sofern man die 15,5-kWh-Akkus nicht ständig an die Ladesäule schickt.
Und wo wir schon bei der Gotteslästerung sind: Wie zum Teufel bedient man das Infotainment mit seiner verspielten Darstellung und verworrenen Menüstruktur während der Fahrt ablenkungsfrei? Gäbe es heutzutage zum Rangieren nicht 360-Grad-Kamera-Systeme mit besserer Bildqualität? Und warum ist nicht einmal durch Bitten, Beten und gutes Geld ein modernes Head-up-Display erhältlich?
Über solche Schönheitsfehler hinweggesehen, löst die Chefgöttin ihre Versprechen von Kraft und Eleganz, Noblesse und gepflegter Athletik aber eindrucksvoll ein. Die Hydropneumatik von anno dazumal ist tot, doch lang lebe das aktive Fahrwerk mit kamerabasierter Vorausschau, das neben traditionell-französischem Reiselimousinenkomfort auch erstaunlich viel Sport zu bieten hat. Die eher würdevolle denn stürmisch-verschwitzte Leistungsabgabe, die souveräne Traktion und die bequemen Sitze (einschliesslich Klimatisierung und Massagefunktion für die Hinterbänkler!) tun ihren Rest, um einen in andere Sphären zu versetzen. Schade nur, landet man immer wieder auf dem harten Boden der Realität, weil ständig irgendwer wissen will, was das überhaupt für ein Auto sein soll – und mit der Antwort «DS 9» dann doch nichts anzufangen weiss.
Mehr Luxusauto fürs Geld
Blasphemie! Andererseits kann man es den Leuten nicht verdenken, wenn die vierrädrigen Göttinnen für sie unsichtbar sind: Gerade einmal vier Modellreihen führt die erst 2015 von der Muttermarke Citroën emanzipierte Nobeltochter DS Automobiles. Über die gesamte Produktpalette hinweg wurden 2022 in der Schweiz lediglich lediglich 594 Fahrzeuge abgesetzt, darunter 40 Exemplare des DS 9. Zum bitteren Vergleich: Im selben Zeitraum verkaufte Mercedes-Benz hierzulande allein von der E-Klasse mehr als 1000 Stück.
Eine exklusive Alternative unter der Premium-Sonne ist der DS 9 allemal. Chic, nobel eingerichtet, komfortabel und zeitgemäss motorisiert sowieso. Günstig erscheint er auf den ersten Blick zwar nicht – während das Plug-in-Hybridmodell mit 250 PS bereits ab 76'300 Franken erhältlich ist, kostet der stets topausgestattete E-Tense 360 4x4 mindestens 98'800 Franken –, ausstattungsbereinigt bleibt unter dem Strich aber doch mehr Luxusauto fürs Geld als bei den deutschen Premiumgiganten.
Und letztlich dürfte die Entscheidung für ein solches Fahrzeug sowieso eine Glaubensfrage sein. Es geht darum, ob man im Zeitalter der Digitalisierung und des Klimawandels an klassischen Luxus glaubt. Ob man an la Grande Auto-Nation glaubt – oder zumindest dem deutschen Establishment abschwört. Ja, ob man an repräsentative Mittlere-Oberklasse-Limousinen glaubt, wo doch die ganze Welt meint, SUVs fahren zu müssen (darunter übrigens auch Monsieur le Président Macron, der das Crossovermodell DS 7 gegenüber dem DS 9 bevorzugt). Und nicht zuletzt: Ob der Glaube stark genug ist, um zu verkraften, dass die Götter irgendwie verrückt spielen. Denn ausgerechnet das luxuriöseste aller Luxusautomobile aus dem Land der berühmtesten Luxusmarken der Welt rollt in China vom Band.
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