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Ende der Hitze-Tour-de-Suisse
Ein ziemlich entspannter Verlierer und ein ziemlich entspannter Sieger

Danke für die Blumen: Tour-de-Suisse-Sieger Geraint Thomas verschenkt seinen Strauss.
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Einen Meter neben der Kühlvitrine der lokalen Gelateria ist Stefan Küng zu stehen gekommen. Die Abkühlung wäre also in Griffweite. Allerdings trennt Küng eine Glaswand von der Erfrischung. Stattdessen leert er PET-Flasche um PET-Flasche, die ihm der Betreuer seines Teams reicht, er saugt die Flüssigkeit geradezu heraus, nach der sein Körper nach dem Zeitfahreffort in Bruthitze lechzt.

Zuvor verharrte er minutenlang bewegungslos auf dem Oberrohr seines Velos sitzend, den Oberkörper über den Lenker gebeugt, umringt von Betreuern, Fans und Medienleuten. Schweigend beobachtet die Menschenansammlung den keuchenden Athleten beim Versuch, alles wieder etwas zu ordnen: den Körper, den er bei 35 Grad und mehr weit über seine Grenzen getrieben hat. Und die Emotionen, weil es mit dem Etappensieg knapp nicht geklappt hat.

Küng ist es noch lange nach der Zieldurchfahrt schwindelig

Elf Sekunden ist Remco Evenepoel schneller, acht Gesamtsieger Geraint Thomas. Bei der Zwischenzeit lag Küng noch knapp vorne, in der zweiten Hälfte wurde die Hitze für ihn zu gross. «Ich war im tiefroten Bereich», sagt er und fügt an, dass es ihm auch jetzt, wo er einigermassen gefasst Auskunft gibt, noch schwindelig sei.

Man kennt seinen grossen Frust nach solchen Niederlagen. Doch für ein Mal wirkt er ungewöhnlich gefasst. Anders als sonst hat er nicht die ganze Woche auf seinen Tag, auf seine Chance gewartet. Nein, er hat sie täglich gepackt, ist mit den Besten mitgefahren, weil er ob der nahenden Geburt seines Sohnes nie wusste, ob er am nächsten Tag noch Verwendung für die Kraft in seinen Muskeln haben würde. Auch wenn er am Schluss auf den beiden Bergankünften doch etwas Zeit verliert: Dank seinem Zeitfahren beendet er die Tour de Suisse als Fünfter. Dabei hatte er vor dem Start keinen Gedanken an dieses Klassement verschwendet.

Stefan Küngs vergebliche Hitzeschlacht: Im Zeitfahren überhitzt der Europameister zum Ziel hin.

«Ich bin eine ausserordentliche Tour de Suisse gefahren und habe mich selber überrascht – und sicher auch viele andere Leute», analysiert er. Tatsächlich ist es die bemerkenswerteste Schweizer Leistung seit dem Sieg von Fabian Cancellara 2009. Vergleichen lassen sich die beiden natürlich nicht direkt. Feststellen lässt sich: Die Ausgabe 2022 war die schwerste seit vielen Jahren, dazu diese Hitze. Entsprechend hoch einzuschätzen ist Küngs Leistung.

Sie wird ihn zu neuen Zielen inspirieren, auch wenn erst die Familie kommt, die überfällige Geburt. Schon übernächsten Dienstag reist er nach Dänemark, zum Start der Tour de France. Das Auftaktzeitfahren ist sein grosses Ziel. Dort wird ihn das Thema wieder begegnen, das ihn auch diese Woche begleitete: Das Covid-Virus wird das wichtigste Rennen des Jahres erneut beschäftigen, das ist nach den vielen positiv getesteten Rennfahrern diese Woche klar. Küng überlegte ebenfalls eine Rennaufgabe, als Vorsichtsmassnahme fürs Baby – blieb nach Rücksprache mit seinem Arzt aber doch.

«Bastard!» sagt der Geschlagene zum 14 Jahre jüngeren Konkurrenten

In Kopenhagen wird er viele Fahrer wiedersehen, mit denen er durch die Schweiz gerollt ist. Dazu gehört auch Geraint Thomas, der für Ineos Grenadiers den Gesamtsieg holt, vor Jakob Fuglsang (DAN) und Sergio Higuita (COL). Der Waliser schnappt auf dem Weg dahin sogar beinahe noch Remco Evenepoel den Etappensieg weg, der Belgier ist drei Sekunden schneller.

«Bastard!» sagt Thomas beim Interview scherzend zum 14 Jahre jüngeren Konkurrenten, der neben ihm grinst. Überhaupt ist der 36-Jährige nach dem Sieg in sehr aufgeräumter Stimmung. Wo andere Sportler die Gelegenheit nützen würden, nach so einer Leistung Ansprüche anzumelden, etwa um als Teamleader zur Tour de France zu starten, macht Thomas, immerhin Tour-Sieger 2018, auf Elder Statesmen: «Nein, nein. Dafür haben wir andere. Ich werde ganz entspannt antreten. Vielleicht auf Etappenjagd gehen – und schauen, wie es im Gesamtklassement so läuft.»

Thomas lässt sich vom schlechten Omen nicht beirren

Irritiert ist er an diesem Sonntag nur einen ganz kurzen Moment. Nach der Besichtigung des Zeitfahrparcours sucht er im Hotelzimmer bei einer Partie Wordle Entspannung. Erst im fünften Anlauf findet er das Lösungswort heraus: LOSER – Verlierer. Thomas dazu: «Ich dachte mir: Will mir da jemand etwas sagen?»

Will niemand, oder Thomas interpretiert die Botschaft falsch – im Etappenklassement erleidet er ja eine Niederlage. Die betrübt ihn nicht allzu sehr, die Freude über den Gesamtsieg ist zu gross, auch wenn er das Gelbe Siegertrikot, das er während der Woche nie trug, schon wieder ausgezogen hat. Eigentlich ein Sakrileg, aber: «Mir war schlicht zu heiss.» Thomas steigt mit seinem Sieg in einen sehr elitären Kreis auf: Neben der Tour de France und dem Critérium du Dauphiné ist die Tour de Suisse die wichtigste Rundfahrt, die er in seiner Karriere gewonnen hat. Triumphe in allen drei Rennen kann nur ein anderer Rennfahrer noch vorweisen: Eddy Merckx.