Ein Tag im Leben einer Musikforscherin«Hektik wird nicht toleriert»
Die Schweizerin Mirjam Wirz (51) erforscht in Kolumbien den Musikstil Cumbia und verbringt deswegen viel Zeit in Innenhöfen.
Eigentlich bin ich keine Frühaufsteherin, aber seit ich in San Jacinto lebe, stehe ich jeden Morgen um halb sieben auf. Die Hitze im kolumbianischen Hinterland ist drückend, oft wird es bis zu vierzig Grad warm, da muss ich die kühlen Morgenstunden nutzen. Ich habe aber Gefallen daran gefunden. Es hat hier viele Vögel, und mir gefällt, wie sie singen.
Nachdem ich meinen Kaffee getrunken habe, mache ich mich auf den Weg zur Baustelle, die fünf Minuten mit dem Motorrad von meiner Wohnung entfernt ist. Wenn mir jemand vor vier Jahren gesagt hätte, dass ich bald in Kolumbien Land kaufe und ein Haus baue, hätte ich nur gelacht.
Ich bin mit einem Recherchestipendium für meine Forschung zur Musikrichtung Cumbia vor vier Jahren zum ersten Mal nach San Jacinto gereist. Cumbia vereint vielschichtige Rhythmusstrukturen afrikanischen Ursprungs mit indigenen Melodien und Instrumenten und stammt aus der Karibikregion Kolumbiens. Mittlerweile ist sie auf dem ganzen Kontinent präsent. San Jacinto liegt in einer Hügelregion, von der die ursprüngliche Cumbia stammt, die mit der indigenen Gaita-Flöte gespielt wird. Ich spüre eine extreme Verbindung zu diesem Rhythmus.
In San Jacinto führte ich bei meinem ersten Besuch viele spannende Gespräche mit Musikerinnen und Musikern, zudem konnte ich die Szene dokumentarisch fotografieren. Ich versprach, mit dem Buch, das ich aus dem Recherchematerial zusammenstellen wollte, zurückzukehren. Viele glaubten mir nicht, da sie diese Versprechen von Forscherinnen und Forschern schon oft gehört hatten. Als ich also ein Jahr später wieder dort stand, staunten sie nicht schlecht.
In erweiterter Form forsche ich noch immer zu Cumbia. In meinem aktuellen Publikationsprojekt «Los Cuadernos Verdes de los Montes de María» veröffentliche ich meine Arbeit in einer Reihe von Heften. Parallel dazu laufen weitere Projekte. Unter anderem plane ich, mit Frauen vom Dorf ein kollektives Lied zu schreiben.
Kommunikation ist das wichtigste Tool für meine Forschung. Also verbringe ich meine Nachmittage oft in irgendwelchen Innenhöfen und lausche den Geschichten der Einheimischen. Dazu brauche ich Zeit. Ich kann nicht hingehen und sagen: Ich habe eine Frage, könnt ihr mir diese kurz beantworten. Das würden die Leute unhöflich finden. Also setzen wir uns hin, trinken etwas und reden, ohne ein Ziel zu verfolgen. So kommen wir irgendwann auf das zu sprechen, was ich gerne wissen würde. Das kann nach einer Stunde sein oder nach vier. Die Menschen in Kolumbien nehmen sich Zeit für ihr Sozialleben. Hektik wird nicht toleriert. Das schätze ich am Leben hier. Es ist zwar alles weniger planbar, aber sehr gesellig.
Es fühlt sich noch immer seltsam an, dass ich hier ein Haus baue. Mein einziger bisheriger Besitz war ein Velo. Deswegen war mir von Anfang an klar, dass dies nicht nur mir ein Zuhause sein soll, sondern auch ein Ort der Kreativität für andere. Wie das genau ausschauen wird, weiss ich noch nicht. Das Haus habe ich mit einer kolumbianischen Architektin zusammen entworfen, sie ist Spezialistin für ökologisches Bauen.
Am Abend bin ich unter der Woche meist um 19 Uhr zu Hause. Nach dem Abendessen lege ich mich in die Hängematte in meinem gemieteten Zimmer, lese oder schaue eine Serie auf dem Laptop. Um 23 Uhr ist es auf den Strassen in San Jacinto wie ausgestorben. Das ist nicht zu vergleichen mit den Sonntagen, wenn viele freihaben. Viele Menschen haben auf der Terrasse oder im Innenhof einen Picó, eine mobile Musikanlage. Daraus klingt den ganzen Tag sehr laut Musik, und die Leute setzen sich mit einem kühlen Bier hin, reden und lauschen. So kann es schon mal passieren, dass ich an einem Sonntag erst nach Mitternacht in meine Hängematte klettere.
Protokoll: Manuela Enggist
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