Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

«Islamistischer Terrorakt» in Paris
Ein Hieb in dieselbe Wunde

Spurensicherung: Forensiker untersuchen den Tatort in der Nähe der ehemaligen Büros der Zeitschrift Charlie Hebdo in Paris.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Von einem Moment auf den anderen ist das Gefühl des Horrors zurück. Am Freitag um Viertel vor zwölf greift ein Mann im elften Arrondissement von Paris zwei Menschen mit einer Axt an, oder mit einer Machete. Die Ermittler können zunächst nur die Tiefe der Wunden feststellen, nicht die Art der Waffe. Der Tatort: die Rue Nicolas Appert Nummer sechs. Exakt der Ort, wo vor fünf Jahren am 7. Januar 2015 die Redaktion der Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» angegriffen wurde.

Die Zeichner und Autoren von «Charlie Hebdo» haben inzwischen neue Räume bezogen, die Adresse wird aus Sicherheitsgründen geheim gehalten, doch die alten Nachbarn sind geblieben. Zu ihnen gehört die Fernsehproduktionsfirma Premières Lignes. Vor fünf Jahren wurden die Mitarbeiter von Premières Lignes Zeugen der Morde. Sie hörten wie die Terroristen Chérif und Saïd Kouachi elf Menschen erschossen. Nun wurden zwei Mitarbeiter der Produktionsfirma, ein junger Mann und eine junge Frau, selbst angegriffen, als sie gerade vor dem Gebäude auf der Strasse standen, um eine Zigarettenpause zu machen. Beide Opfer wurden verletzt, eines schwer. Eine Zeuge sagte aus, er habe die Frau schreien gehört, sie habe aus einer grossen Kopfwunde geblutet.

Blutspuren im Gesicht

Sie seien im Vorfeld nie direkt bedroht wurden, sagte Paul Moreira, ein Mitarbeiter von Premières Lignes in einem Interview mit dem Fernsehsender BFM nach dem Angriff. Gleichzeitig stellte er den Zusammenhang zu dem Anschlag auf «Charlie Hebdo» her: «Es war genau derselbe Ort, und sie standen da ungeschützt, das lässt einen erschaudern.» Die Anti-Terror-Staatsanwaltschaft übernahm am frühen Freitagnachmittag die Ermittlungen. Weder zur Identität noch zu den Motiven der Täter gab es zunächst genauere Informationen.

Kurz nach der Tat verhaftete die Polizei zwei Verdächtige. Darunter einen Mann an der Place de la Bastille, nicht weit vom Tatort, der Blutspuren im Gesicht hatte. Am Nachmittag sagte der zuständige Staatsanwalt, dass der «Haupttäter» gefasst worden sei, es handle sich um einen 2002 geborenen Mann, der unter anderem wegen illegalen Waffenbesitzes polizeibekannt war.

Nicht nur der Ort des Angriffs, auch der Zeitpunkt lässt die schlimmsten Erinnerungen wach werden.

Das betroffene Quartier blieb grossräumig abgesperrt, Kinder und Jugendliche durften Schulen und Krippen nicht mehr verlassen. Es wurde nach weiteren Tatverdächtigen gefahndet. Am Nachmittag stand die Spurensicherung in weissen Schutzanzügen vor dem Wandgemälde, das die Menschen zeigt, die am 5. Januar 2015 ermordet wurden. Ein früherer Tatort war erneut zum Tatort geworden.

Nicht nur der Ort des Angriffs, auch der Zeitpunkt lässt die schlimmsten Erinnerungen wach werden. Im Pariser Justizpalast läuft seit dem 2. September der Prozess gegen 13 Personen, denen vorgeworfen wird, das Attentat auf «Charlie Hebdo» und auf einen koscheren Supermarkt mit vorbereitet zu haben. Der Prozess wurde von neuen Einschüchterungsversuchen gegen das Satiremagazin begleitet. Am Montag musste die Leiterin der Personalabteilung von «Charlie Hebdo», Marika Bret, von der Polizei aus ihrer Wohnung geschleust werden, nachdem die Morddrohungen gegen sie immer konkreter geworden waren. «Seit Beginn des Prozesses haben uns alle Arten von Abscheulichkeiten erreicht, darunter Drohungen der al-Qaida und Aufrufe, dass jemand die Arbeit der Kouachi-Brüder beenden müsse», sagte Bret. Zum Prozessauftakt hatte «Charlie Hebdo» erneut Karikaturen veröffentlicht, die den Propheten Mohammed zeigen. Dazu auf der Titelseite die Überschrift: «Tout ça pour ça», all das deswegen.

Wie angespannt die Sicherheitslage ist, konnte man im Justizpalast von Prozessbeginn an spüren. Um den «Charlie Hebdo»-Prozess zu verfolgen, muss man nicht nur die Hände desinfizieren und Maske tragen, man muss auch vier verschiedene Sicherheitsschleusen passieren, viermal den Inhalt von Rucksack und Taschen zeigen.

Nach dem Angriff vom Freitag war die Panik wieder spürbar, die eine der direkten Folgen des Terrors ist. Noch gibt es keine Plädoyers, keinen Schlagabtausch der Argumente, der Zeugenstand gehört den Trauernden. Menschen wie Valérie Braham, die sagen: «Ich bin gestorben an dem Tag, an dem auch mein Mann gestorben ist. Ich existiere nur noch wegen meiner Kinder.» Am 9. Januar will Brahams Ehemann für das Shabbat-Essen der Familie im koscheren Supermarkt einkaufen, als der Terrorist Amédy Coulibaly auf ihn schoss.

Ein solidarischer Aufschrei

Als «Charlie Hebdo»-Prozess werden die 49 Verhandlungstage bezeichnet, die am 2. September begonnen haben. Doch das zu durchleuchtende Verbrechen umfasst mehr als den Anschlag auf die Zeichner des Satiremagazins. Die ganze Welt hat am 7. Januar 2015 die Bilder gesehen, wie die Brüder Chérif und Saïd Kouachi triumphierend auf die Strasse traten, die Kalaschnikow in der Hand, nachdem sie elf Menschen getötet hatten. Kurz darauf ermordeten sie einen Polizisten.

«Je suis Charlie», ich bin Charlie – ein solidarischer Aufschrei ging durch das Land. Und das Morden ging weiter. Am 8. Januar erschoss Amédy Coulibaly eine Polizistin, am 9. Januar überfiel er einen Supermarkt. Nicht irgendeinen Supermarkt: Coulibaly wählte den Hyper Cacher an der Porte de Vincennes, im Osten von Paris, weil er wusste, dass dort in erster Linie Juden einkaufen.

In Paris werden nun diese drei Januartage innerhalb eines Prozesses verhandelt. So zeigt sich auch, was die Ideologie der Islamisten zusammenhält: ihr Hass gilt der Französischen Republik. Deren Werte werden so oft beschworen, dass sie fast schon abgenutzt klingen. Meinungsfreiheit, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit. Doch leere Worte sind das nicht. Die Kouachis und Coulibaly wählen ihre Ziele so aus, dass ihnen Anerkennung und Ruhm der Fanatiker gewiss sind. In ihrer Logik töten sie ihre «Feinde». Diejenigen, die sich nicht verbieten lassen wollen, derbe Islamkarikaturen zu veröffentlichen. Diejenigen, die den Staat repräsentieren, der diese Freiheit schützt. Und schliesslich Juden. Eine Zeugin erinnert sich an einen der Sätze, den Coulibaly nach seinen Morden sagt: «Ihr seid das, was ich am meisten hasse: Franzosen und Juden.» Am Donnerstag wird im Gerichtssaal ein Propagandavideo der Terrormiliz IS gezeigt, dass Chérif und Saïd Kouachi als «tapfere Männer» im «heiligen Kampf von Paris» glorifiziert.

In einer Glasbox im Gerichtssaal sitzen die elf Männer, die als Unterstützer der Taten gelten.

Am 9. Januar 2015 werden die Kouachis und Coulibaly von der Polizei erschossen. Die einen, als sie das Feuer eröffnen. Der andere, Coulibaly, kurz darauf, als die Anti-Terror-Einheit den Supermarkt stürmt. Wen kann man also heute noch zur Rechenschaft ziehen? In einer Glasbox im Gerichtssaal sitzen die elf Männer, die als Unterstützer der Taten gelten. Sie sind angeklagt, weil sie Waffen besorgt und Spuren verwischt haben. In den kommenden Wochen des Prozesses wird es darum gehen, wie viel sie tatsächlich wussten.

Gezeichnet: Chloe Verlhac, Witwe des «Charlie Hebdo»-Karikaturisten Tignous, nach der Anhörung im Gerichtssaal.

Einen Monat lang dominierte nur eine Frage den Prozess: Was haben die Opfer erlebt? Sie wurde der «Charlie Hebdo»-Karikaturistin Corinne Rey, genannt Coco, gestellt, die den Anschlag überlebte und die den Terroristen die Tür öffnete, sie hatten die Kalaschnikow im Rücken. «Ich habe mich sehr lange schuldig gefühlt», sagte Rey im Zeugenstand. «Die einzigen Schuldigen sind die islamistischen Terroristen. Und diejenigen in der Gesellschaft, die vor dem Islamismus einknicken. Ich will auch deshalb hier aussagen, weil ich an dieser Stelle sagen möchte, dass wir als Gesellschaft ein Problem haben.»

«Wir waren wie Schwestern»

Die Frage wird auch der Mutter von Clarissa Jean-Philippe gestellt. Clarissa Jean-Philippe wurde 26 Jahre alt, sie wurde am 8. Januar von Coulibaly erschossen, weil sie Polizistin war. «Wir waren wie Schwestern», sagt ihre Mutter, die aus Martinique angereist ist, um davon zu erzählen, wie der Terror ihr das Liebste nahm. Auch Eric Cohen soll davon erzählen, wie es ihm geht. Am 9. Januar erschiesst Coulibaly seinen 20-jährigen Sohn Yohan. «Die Leichtigkeit, mit der dieses Leben genommen wurde, das kann ich nicht verzeihen», sagt Cohen.

Schon bevor der Prozess begann, wurde er als «historisch» eingestuft, daher wird jeder Verhandlungstag für die Archive gefilmt. Wer sich später diese erste Prozesshälfte anschaut, wird nicht nur die Stimmen der Hinterbliebenen und Überlebenden hören. Er oder sie wird ein Dokument der Verzweiflung, Verbitterung und Hilflosigkeit vorfinden, die seit fünf Jahren Teil des Landes sind. Und er oder sie wird Menschen sehen, die sich gegen die Bosheit, die Anmassung und den Hass stemmen, der in drei Januartagen 17 Menschen das Leben kostete.

Doch an diesem Freitag fühlt sich dieser Prozess nicht historisch an, nicht so, als würde er etwas Vergangenes behandeln, sondern schmerzhaft aktuell. Unabhängig vom Motiv des Täters oder der Täter reisst der Angriff Wunden auf, die ohnehin kaum verheilt waren.