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Interview zum Floyd-Prozess
«Ein Freispruch würde Öl ins Feuer giessen»

Grosse Teile der Öffentlichkeit erwarten einen Schuldspruch: Demonstrantinnen und Demonstranten hängen in Minneapolis, wo der Prozess stattfindet, Porträts von George Floyd auf.  
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«I can't breathe» – vor knapp zehn Monaten ging ein Video um die Welt, in dem George Floyd immer wieder diesen Satz wiederholte. Der damalige Polizist Derek Chauvin presste ihm bei einer Festnahme acht, neun Minuten lang sein Knie in den Nacken. Floyd verlor währenddessen das Bewusstsein und starb. Am Montag hat in Minneapolis das Hauptverfahren im Prozess gegen Chauvin begonnen. Sollte er verurteilt werden, drohen ihm mehrere Jahrzehnte Gefängnis – doch in der Vergangenheit kam es in ähnlichen Prozessen häufig zu Freisprüchen. Manfred Berg, Professor für amerikanische Geschichte an der Universität Heidelberg, erklärt, warum das auch in diesem Prozess möglich ist und wie die Jury zu ihrem Urteil gelangt.

Herr Berg, der Tod von George Floyd hat weltweit für Entrüstung gesorgt und ist zu einem Symbol für strukturellen Rassismus und Polizeigewalt in den USA geworden. Welche Bedeutung hat der Prozess gegen den Mann, der mutmasslich für Floyds Tod verantwortlich ist?

Manfred Berg: Die Bedeutung ist kaum zu überschätzen. Grosse Teile der amerikanischen Öffentlichkeit erwarten einen Schuldspruch. Sie erwarten, dass die rassistische Polizeigewalt, die vergangenes Jahr in Minneapolis geschehen ist, mit den Mitteln des Strafrechts geahndet wird.

Die Anklage wirft Derek Chauvin Mord beziehungsweise Totschlag vor. Sollte Chauvin in einem dieser Punkte für schuldig erklärt werden, müsste er für viele Jahre ins Gefängnis. Für wie wahrscheinlich halten Sie das?

In diesem Verfahren entscheidet eine zwölfköpfige Jury über den Schuldspruch. Es ist schwer vorauszusehen, wie solche Geschworenenprozesse ausgehen. In der US-amerikanischen Geschichte hat es viele spektakuläre Prozesse gegeben, die nicht so endeten, wie man sich das vorgestellt hatte. Das Video von dem Vorfall ist ja nur ein Beweismittel, und es ist nicht klar, ob es das entscheidende sein wird. Ich vermute, dass das Verfahren lange dauert und am Ende nicht so ausgeht, wie es die amerikanische Öffentlichkeit erwartet.

«Der Rechtsanwalt von Derek Chauvin wird vermutlich argumentieren: Floyd ist gar nicht an der Verhaftung gestorben, sondern an einer Überdosis.»

Manfred Berg

Chauvin hat auf nicht schuldig plädiert. Ist schon absehbar, mit welcher Strategie die Verteidigung ihn entlasten will?

Die Autopsie hat ergeben, dass George Floyd bei seinem Tod unter starkem Drogeneinfluss stand. Er ist ausserdem kein unbeschriebenes Blatt. 2019 wurde er schon einmal verhaftet und stand auch damals unter dem Einfluss von Drogen. Der Rechtsanwalt von Derek Chauvin wird vermutlich argumentieren: Floyd ist gar nicht an der Verhaftung gestorben, sondern an einer Überdosis. Das könnte dazu führen, dass Chauvin freigesprochen oder nur wegen fahrlässiger Tötung verurteilt wird.

In der Jury sitzen ganz normale Bürger. Birgt das nicht die Gefahr, dass das Urteil sehr stark von den Emotionen und Ansichten der Geschworenen abhängt?

Diese Gefahr besteht immer. Eine Jury sollte natürlich unparteiisch sein. In diesem Fall ist das besonders schwierig, denn es wird im Staat Minnesota niemanden geben, der dieses Video noch nicht gesehen hat. Die Geschworenen dürfen aber auch nicht einfach nach ihrem Bauchgefühl entscheiden. Sie werden vom Richter belehrt und sind sich in der Regel ihrer Verantwortung bewusst. Ausserdem haben sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung das Recht, Geschworene abzulehnen, wenn sie den Eindruck haben, dass sie voreingenommen sind. Das ist auch in diesem Verfahren passiert.

Was weiss man über die Geschworenen?

Man weiss, dass die Jury aus drei schwarzen Männern, einer schwarzen Frau, zwei weissen Männern, vier weissen Frauen und zwei Frauen besteht, die sich als «multiracial» bezeichnen.

Wenn ein Einziger von ihnen sich gegen die anderen stellt und die Jury kein einstimmiges Urteil fällt, könnte das zu einem sogenannten «mistrial» führen. Der Prozess ginge dann ohne Ergebnis zu Ende und könnte wiederholt werden. Ist dieses System – besonders für Fälle einer solchen Tragweite – zeitgemäss?

Der amerikanische oberste Gerichtshof meint: ja. Er hat im vergangenen Jahr ausdrücklich bestätigt, dass in Strafverfahren das Prinzip der Einstimmigkeit gewahrt werden muss. Das wird als Sicherung gegen vorschnelle Verurteilungen verstanden. Die Vermutung dabei ist: Wenn zwölf Bürgerinnen und Bürger mit gesundem Menschenverstand sich darauf verständigen, dass es keinen Zweifel an der Schuld des Angeklagten gibt, dann sind die Voraussetzungen für ein faires Verfahren erfüllt. Das wird als eine demokratische Beteiligung des Volkes an der Rechtsprechung angesehen. In der angloamerikanischen Rechtstradition gilt das Geschworenenverfahren als Inbegriff der Rechtsstaatlichkeit bei Strafverfahren.

In der Vergangenheit kam es in vergleichbaren Verfahren trotzdem immer wieder zu Freisprüchen von Polizisten. Warum?

Das hat damit zu tun, dass die Beweisführung oft sehr schwierig ist und der Grundsatz gilt: im Zweifel für den Angeklagten. Die amerikanische Öffentlichkeit und oft auch die Geschworenen gehen tendenziell davon aus, dass Polizisten einen harten Job haben und dabei auch hart durchgreifen müssen.

Welche Reaktionen erwarten Sie, sollte Chauvin freigesprochen werden?

Ich fürchte, dass es dann zu schweren Ausschreitungen kommt. Man müsste sich auf das Schlimmste gefasst machen. Viele Afroamerikaner empfinden die Polizei und die Justiz ohnehin als rassistisch. Ein Freispruch könnte den Eindruck erwecken: Hier wird wieder einer dieser Cops vom System gedeckt – Cops, die glauben, sie könnten sich gegenüber Schwarzen alles erlauben. Die Wut über diese Übergriffe ist gewiss verständlich. Ein Freispruch würde Öl ins Feuer giessen.

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