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Neue U-Bahn-Linie in London
Ein 118 Kilometer langes Wunderwerk

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Eine feine violette Doppellinie läuft neuerdings wie ein fast schnurgerades Band quer über die «Tube Map», die vertraute Londoner Bahn- und U-Bahn-Karte. Zum Schwarz der Northern Line, zum Blau der Picadilly Line, zum Rot der Central Line und zu all den anderen Farben fügt sich eine nagelneue Linie, eben in «Royal Purple», ins Gewusel des bunten Londoner Schienenverkehrs.

Crossrail war der Name dieser 118 Kilometer langen Strecke in all den Jahrzehnten ihrer Planung, ihres Baus, des zähen, kolossalen Kraftakts ihrer Entstehung. Dann hat man eines Tages, zu Ehren der inzwischen 96-jährigen Monarchin der Insel, Crossrail in Elizabeth Line umgetauft.

Und nun, wenige Tage vor Beginn der nationalen Feierlichkeiten zum Platinjubiläum von Elizabeth II. in London, hat die neue Bahn – zumindest auf ihrem zentralen Streckenabschnitt – den Betrieb aufgenommen. Geschmeidig rollen ihre superlangen Züge an die Bahnsteige droben im Freien und drunten in den elegant gewundenen Tunneln tief unter der Stadt.

Würde selbst wohl nie U-Bahn fahren: Die britische Königin Elizabeth II. besuchte den Bahnhof Paddington in London, noch bevor die neue Elizabeth Line in Betrieb genommen wurde. 

Bahnhöfe wie Kirchenschiffe

Ganz ohne das Kreischen und Poltern der alten U-Bahn-Züge aus der viktorianischen Ära geht es dabei zu. Wie von Geisterhand öffnen und schliessen sich die Glastüren, die die Gleise von der Plattform trennen. Weiträumig und komfortabel laden die Wagen zum Mitfahren ein.

Enorm sind die Dimensionen der Züge und der neuen unterirdischen Bahnhöfe, die von beeindruckten Kommentatoren gern mit Kirchenschiffen verglichen werden. Dabei sind sie äusserst funktional angelegt und kommen ohne allen nostalgischen Luxus, ohne Lüster und Zierwerk aus. Wichtiger waren denen, die diese Bahnlinie entwarfen, sanft gerundete Gänge, luftige Hallen und der Einfall von Tageslicht. Allein die imposante Eingangshalle in Paddington, unter einem gewaltigen Glasdach mit digitalem Wölkcheneffekt, ist über 120 Meter lang.

1500 Passagiere auf einmal soll ein Zug der Elizabeth Line durch die Welt unter dem Pflaster Londons – und weit hinaus aufs Land – befördern können. Das sind doppelt so viele, wie die Picadilly Line zur Hauptverkehrszeit verkraftet. Und in kürzerem Takt.

Als «einen massiven Stimulus für Moral und Selbstvertrauen Londons», besonders nach zwei harten Covid-Jahren, feiert der Chef der Londoner Verkehrsbetriebe, Andy Byford, die neue «Königin der U-Bahnen» an der Themse: «Wenn die Leute hier erst anrollen, wird es sie regelrecht umhauen, angesichts der Grösse des Ganzen und der ruhigen Selbstverständlichkeit, mit der alles läuft.»

Die Fahrt mit der neuen Bahn werde sich zweifellos «revolutionär auswirken aufs Reisen durch die Hauptstadt und weiter durch den englischen Südosten», ist der Londoner Bürgermeisters Sadiq Khan überzeugt. Lang genug – fast die ganze zweite elisabethanische Ära lang – hat es ja auch gedauert, bis die Elizabeth Line endlich betriebsbereit war. 

Bis in die 40er-Jahre des vorigen Jahrhunderts geht die Idee einer massiven «underground railway» quer durch London, einer Ost-West-Achse für Fortbewegung in Rekordzeit, immerhin zurück. 1974 wurde der Name Crossrail geboren. Und 1989 nahm das Projekt in einer «zentralen Eisenbahnstudie für London» konkrete Gestalt an und wurde ein ernsthaftes Konzept.

Nach 2008 begannen die Vorbereitungen, trotz Kredit-Crash und Finanzkrise – mit Vermessungen, Landkauf, ersten Abrissmassnahmen bis ins Herz Londons hinein nach Soho. Das Astoria an der Charing Cross Road, nahe Tottenham Court, wurde 2009 das prominenteste Opfer der neuen Strecke. Es war zu seinen Glanzzeiten eine berühmte Music Hall, ein Ballsaal und ein Kino gewesen, musste aber Crossrail weichen, wie so viele andere Gebäude auch.

2012 wurden die gigantischen, 1000 Tonnen schweren Bohrmaschinen angefahren, die sich von da an langsam, aber stetig durch die Erde unter London wühlten. Mit äusserster Vorsicht arbeitete man sich voran, um 42 Kilometer des neuen Tunnels zu graben, behutsam an den Fundamenten von Hochhäusern und Wolkenkratzern, an den grossen viktorianischen Abflusskanälen und an all den anderen, schon existierenden U-Bahn-Tunneln vorbei.

Kosten: 24 Milliarden Franken

Zeitweise wurde die Crossrail-Baustelle, die in einigen Vierteln Londons jahrelanges Chaos verursachte, zur grössten archäologischen Fundstätte des Landes. Von römischen Münzen bis zu Tudor-Schuhen, von den Skeletten mittelalterlicher Pestopfer bis zu Knochenresten eines Mammuts tauchte ein riesiger Schatz an Geschichte und Vorgeschichte aus dem Londoner Untergrund auf.

75’000 Menschen insgesamt waren am Crossrail-Projekt beteiligt. Umgerechnet knapp 24 Milliarden Franken verschlang die Konstruktion am Ende. Ob es das wert war? So ganz sicher ist sich da, trotz aller offiziellen Begeisterung, nicht jeder im Vereinigten Königreich.

Einige Kritiker bemängeln, dass hier, wieder einmal, London im Vergleich zum Rest des Landes bevorzugt worden ist. Auf die West Midlands zum Beispiel, die Region um Englands zweite Stadt Birmingham, entfällt an Geldern für den öffentlichen Verkehr pro Kopf der Bevölkerung nur ein Drittel dessen, was London erhält.

Und hatte nicht ausgerechnet Premierminister Boris Johnson jüngst «levelling up», die Anhebung des Lebensniveaus in den benachteiligten Gebieten des mittleren und nördlichen Englands, zu einem zentralen Punkt seiner Politik erklärt?

Londons Bürgermeister Sadiq Khan (v.l.n.r.), Howard Smith, Chief Operating Officer, Premierminister Boris Johnson und Verkehrsminister Grant Shapps in einem Elizabeth-Line-Zug.

Crossrail war freilich in einer Zeit erdacht worden, als London noch geeicht war auf Wachstum, weltweite Bedeutung, beispiellosen Reichtum. Als man mit immer grösserer Bevölkerungsdichte rechnete und eine Überlastung der Strassen und des alten U-Bahn-Systems kommen sah. «Es ist ja auch ein tolles Stück Technologie», räumt Professor John Whitelegg, Verkehrsexperte der Universität Liverpool, ein. Aber man dürfe nicht übersehen, dass die Lasten allzu ungleich verteilt seien: «Der Stadt Liverpool hat die Regierung erklärt, sie könne keine Strassenbahn bekommen, das koste zu viel.»

Nicht vorherzusehen war, wie sehr sich Londons U-Bahn-Verkehr durch den Prankenschlag Coronas ausdünnen würde. Auch in diesem Mai haben die Passagierzahlen der Underground die Vor-Covid-Marke noch keineswegs erreicht.

Was Crossrail betrifft, so hatte man ursprünglich mit jährlich 250 Millionen Passagieren um das Jahr 2026 herum gerechnet. Jetzt, schätzt Londons Verkehrschef Andy Byford, werden es vielleicht nur 130 bis 170 Millionen sein. Auch Byford macht sich keine Illusionen darüber, dass die Folgen der Pandemie weit in die Zukunft reichen dürften. Mehr und mehr Londoner arbeiten neuerdings von zu Hause aus. Viele sind weit aufs Land hinaus gezogen, wo der Wohnraum billiger ist. Rückgängig machen lasse sich diese Entwicklung so leicht nicht, vermutet der Verkehrschef: «Die Leute haben gesehen, dass Arbeiten von zu Hause aus eine echte Alternative ist.»

«Sehr schön, ganz vortrefflich»

Vielfach bezweifelt wird, dass es in Grossbritannien je noch einmal Grossprojekte wie die Elizabeth Line geben wird. Eine zweite Crossrail-Strecke, diesmal von Norden nach Süden, war zum Beispiel schon angedacht, wird nun aber in den nächsten Jahren nicht gebaut.

Erst einmal hofft man jetzt, dass Crossrail 1 bis Ende 2023 die gesamte lila Strecke umfassen wird, die nun sukzessive freigegeben werden soll: Dass man dann von Reading in der Grafschaft Berkshire bis nach Shenfield in Essex fahren kann, quer durch London und seinen Einzugsbereich, die ganzen 118 Kilometer weit.

Eine Londonerin, die man auf dieser Strecke wohl kaum finden wird, ist die Person, nach der die Linie nun also benannt worden ist – Königin Elizabeth II. Immerhin hat Ihre Majestät, auf Einladung von Bürgermeister Khan und Premierminister Boris Johnson, «ihre» Linie vorige Woche huldvoll inspiziert.

Ihre Begeisterung brachte einige zum Schmunzeln: Nicht einmal wenn sie einiges jünger wäre, würde man Elizabeth II. in der Elizabeth Line je zu Gesicht bekommen. 

In der Paddington Station, unter dem Glasdach mit den Wölkchen, zeigte ein zuvorkommender Bahnbediensteter der alten Dame freundlicherweise, wie sie ihre Bahnkarte, die sogenannte Oyster Card, auf das gelbe elektronische Lesegerät der Ticketmaschine legen muss, um durch die Barriere zu kommen.

Wohin sie denn mit so einem Ticket fahren könne, wollte die Königin wissen. Der Bähnler erklärte ihr die erreichbaren Stationen. «Sehr schön, ganz vortrefflich», antwortete die Queen höflich.

Was die meisten ihrer Landsleute natürlich schmunzeln liess, als sie es hörten. Nicht einmal wenn sie einiges jünger wäre, würde man Elizabeth II. je zu Gesicht bekommen in der Elizabeth Line.

Sie, die bei Bedarf im Royal Train, in einer fürstlichen Limousine oder in der Staatskutsche reist, braucht nie wieder eine Oyster Card in die Hand zu nehmen. Zufrieden dürfte sie aber darüber sein, dass nun nicht mehr nur ihre Vorfahrin Victoria über eine nach ihr benannte Bahnlinie in London verfügt.