AboMeute jagt SchiedsrichterDieser Schweizer Fussball-Skandal ist einmalig
Am 7. Oktober 1989 wird Wettingen im Spiel gegen Sion von Schiedsrichter Klötzli ein reguläres Tor aberkannt – was danach passiert, ist bis heute unvergessen.

«Ganz ehrlich», sagt Jörg Stiel heute, «dafür gibt es keine Erklärung. Und es gibt keine Entschuldigung.» Stiel ist inzwischen ein gesetzter Mann von 56 Jahren, das Haar kurz und ergraut. Von Beruf ist er Goalietrainer bei den Grasshoppers.
21 ist Stiel, als es auch aus ihm herausbricht, an jenem Abend des 7. Oktober 1989 im Tourbillon, als der Schweizer Spitzenfussball von einem Skandal erschüttert wird, wie er bis heute einmalig geblieben ist. Er steht im Tor des FC Wettingen, eines Clubs aus einer Kleinstadt, die an ein Dorf erinnert, und mit einem Präsidenten, der mit seinem Geld einiges bewirkt hat.
Hubert Stöckli heisst der Mann, und weil er mit Spielautomaten sein Geld verdient, wird er gerne «Automaten-Hubi» genannt. Die Journalisten haben Freude an ihm. Er liefert ihnen dankbar Geschichten und verleiht dem Club Farbe.
Im Herbst 1989 geht es der Wettinger Mannschaft schlecht. Nachdem sie die vorangegangene Saison noch auf Platz 4 beendet hat, kämpft sie jetzt gegen den Fall in die Abstiegsrunde. In Sitten gerät sie in der 88. Minute 0:1 in Rückstand. Die Unruhe steigt, als die Nachspielzeit läuft.
Sion kann einen Freistoss treten, ein paar Meter seitlich des eigenen Strafraums. Schiedsrichter Bruno Klötzli mahnt Jean-Paul Brigger, sich zu beeilen. Klötzli schaut auf die Uhr, und wahrscheinlich schaut er auch auf die Uhr, als sich das zuträgt, was zum unerhörten Ereignis wird. Brigger bringt es fertig, den ersten Gegenspieler, der Salvatore Romano heisst und viel zu wenig weit weg steht, anzuschiessen. Von Romano landet der Ball direkt vor den Füssen von Martin Rueda, und Rueda erkennt, dass Sions Goalie Stefan Lehmann im Niemandsland steht, und hebt den Ball vom Strafraumrand über Lehmann Richtung leeres Tor.
Diese Panik von Klötzli
Der Ball fliegt und fliegt, und ein oder zwei Sekunden, bevor er im Netz landet, pfeift Klötzli das Spiel ab. Es ist eine spezielle Art, ein reguläres Tor nicht anzuerkennen. Er mag regeltechnisch nichts falsch gemacht haben. Aber sonst hat er alles falsch gemacht. Und darum löst er, so Stiel, «eine Gruppendynamik» aus, die zu den unvergessenen Jagdszenen führt.
Alles, oder fast alles, was mit Wettingen zu tun hat, geht auf Klötzli los. Die Bilder, die davon gemacht werden, ob mit Fernseh- oder Fotokameras, sind qualitativ miserabel. Es bleiben Dokumente des Grauens: Wettinger, die Klötzli als Freiwild betrachten, Klötzli, der sich, mit Panik im Gesicht, in Sicherheit zu bringen versucht.
An vorderster Front tobt sich Jörg Stiel aus: «25 von 35 Sekunden im Fernsehen bin ich zu sehen», sagt er. Seine Mutter verdrehe heute noch die Augen, wenn sie daran zurückdenke. Trotzdem geht er straffrei aus. Weil er Goalie der Schweizer U-21 ist und weil es, das vor allem, vier andere Täter gibt.
Klötzli erwähnt in seinem Rapport die Spieler mit den Nummern 3, 6, 9 und 12, von Alex Germann, Roger Kundert, Reto Baumgartner und Martin Frei. Ihre Vergehen gegen Klötzli lauten, der Reihe nach: Faustschlag auf die Schultern und in den Magen, Tritt ins Gesäss, Sprung in den Rücken mit beiden Knie, Sprung in die Beine mit beiden Füssen.
Im Moment der groben Benachteiligung denkt sich Germann nur: «Er betrügt uns.» Und stürmt mit der Meute auf Klötzli los. Dass er das macht, liegt auch an seiner Rolle, die er in der Mannschaft hat. Er ist nicht nur Verteidiger, sondern auch ein Aggressivleader. Aber ob er den Schiedsrichter wirklich mit zwei Schlägen trifft? Das kann er auch heute nicht mit Sicherheit sagen. Nicht, weil er nicht will, sondern weil es in seiner Wahrnehmung nur «Schwinger» gewesen sind.
Damals leuchten nicht wie heute 15 oder 20 Kameras jedes Detail aus, eine muss genügen. Die Bilder, die bis heute überdauert haben, sind wild und unübersichtlich. Und sorgen für das Erstaunen, wie Klötzli die Ausfälligkeiten der Wettinger in jedem Detail erkannt haben will. Zumal eben aus seinen Augen auf einem Foto nur eines zu lesen ist: nackte Panik.
«Wenn ich gestolpert wäre, wäre ich mit Sicherheit im Krankenhaus gelandet», wird er Jahre später sagen.
Sperre statt Dortmund
Am Tag nach dem Abend im Tourbillon geben Germann, Kundert und Baumgartner dem «Blick» unbeschwert ein Interview, «leider», sagt Germann inzwischen. Es ist seine Umschreibung dafür, wie unbedarft alle in Wettingen mit der Situation umgehen. «Wettingen war ein Dorfverein», erklärt Stiel, «alles war eine Nummer zu gross.»
Dass die Sünder reden, hilft ihnen nicht. Ihre Aussagen werden zur Provokation für die Gerichtsinstanzen des Schweizerischen Fussballverbandes. Kundert wird für vier, Frei für acht und Baumgartner für zehn Monate gesperrt. Am übelsten trifft es Germann: zwölf Monate Sperre und 20’000 Franken Busse.

Germann ist im Ausland zu der Zeit ein gefragter Spieler. Er hat Anfragen aus Österreich, der Türkei und aus Kaiserslautern. Von Borussia Dortmund liegt gar ein Angebot vor, eines, das für einen Schweizer Spieler «sehr interessant» ist. Dortmund zieht es aus naheliegenden Gründen wieder zurück.
Elf Tage nach dem Spiel im Tourbillon tauchen die Wettinger nochmals ins internationale Rampenlicht ein, diesmal ist es strahlend hell. Im Letzigrund dürfen sie im Uefa-Cup gegen Napoli und Diego Maradona spielen. «Automaten-Hubi» Stöckli verlangt 100 Franken für eine Eintrittskarte, was zu der Zeit enorm viel ist. Das Stadion ist trotzdem ausverkauft.
Germann kann mitspielen, weil die Sperre noch nicht wirksam ist. Im Rückblick glaubt er, «Maradona zweimal umgehauen zu haben». Jedenfalls hilft er, ein 0:0 zu erkämpfen. Zwei Wochen später verliert Wettingen in Neapel nach heroischem Kampf 1:2. Bei Stiel fliesst das Adrenalin so sehr, dass er trotz eines Innenbandrisses aus der ersten Halbzeit bis zum Ende im Tor steht.
Das versöhnliche Treffen
Bald beendet Frei seine Karriere aus Frust vorzeitig. Kundert entschliesst sich wegen eines Kreuzbandrisses zum Rücktritt. Baumgartner wechselt nach seiner Sperre zum FC Basel. Und Germann kehrt für Wettingen auf den Platz zurück, bevor er zum FC Zürich wechselt und schliesslich in Bellinzona seine Karriere beendet. Wettingen steigt 1992 in die Nationalliga B ab, geht ein Jahr danach in Konkurs und wird als FC Wettingen 1993 in der 5. Liga neu gegründet.
Bruno Klötzli tritt ein halbes Jahr nach dem Spiel in Sitten zurück, er hat genug von all den Drohungen und Beleidigungen, die auf ihn einprasseln. Er beginnt die Arbeit als Schiedsrichter zu vermissen und im Casino seine Existenz zu verspielen. Er macht Schulden und verliert seine Arbeit als Banker. Erst als er ein Restaurant im Berner Jura übernehmen kann, wird sein Leben für ihn wieder gut. Heute führt er die Buvette des FC Belprahon.
Zwanzig Jahre dauert es, bis sich Opfer und Täter wieder treffen. Klötzli erscheint, obschon am Morgen jenes Tages sein Vater gestorben ist, er will sich, sagt der dem «Blick», nicht dem Verdacht aussetzen, «ein Angsthase» zu sein. Germann geht ohne Groll hin, er hat für sich entschieden, dass die Ereignisse vom Tourbillon untrennbar zu seiner Geschichte gehören. «Es ist passiert», sagt er, «fertig.»
Beim Treffen entschuldigt sich Klötzli dafür, dass er den Freistoss von Brigger nicht wiederholen liess, obschon der Wettinger Spieler viel zu nahe stand. Die Spieler entschuldigen sich für ihre Aggressionen. Als 60-jähriger Versicherungsbroker sagt Alex Germann: «Alles ist bereinigt.»
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