«Super Thursday» in Grossbritannien«Die wichtigste Wahl der schottischen Geschichte»
Die britischen Kommunal- und Regionalwahlen sind der erste landesweite Stimmungstest seit Brexit-Vollzug und Pandemiebeginn. Das Hauptinteresse gilt Schottland, das die Weichen zu einem neuen Unabhängigkeitsreferendum stellen könnte.
Erstmals seit den Unterhauswahlen von 2019, bei denen der Brexit-Vollstrecker Boris Johnson triumphierte, sind die Wählerinnen und Wähler in England, Schottland und Wales am Donnerstag an die Wahlurnen gerufen. Im vorigen Mai, während der katastrophalen ersten Corona-Welle, fielen alle Kommunal- und Regionalwahlen in Grossbritannien aus.
Die jetzt nachgeholten Wahlen zusammen mit den neu fälligen machen den morgigen Wahlgang zu einem der grössten seit vielen Jahrzehnten. «Super Thursday» haben die britischen Medien ihn getauft. Annähernd 5000 Stadt- und Kreisräte quer durch England und sieben Regio-Bürgermeister, die so genannten «Metro Mayors», müssen neu gewählt werden. In London, der grössten Kommune Westeuropas, steht die Neuwahl der Stadtversammlung und des Londoner Bürgermeisters an.
Mit Spannung wird der Ausgang dieses ersten landesweiten Stimmungstests seit dem Brexit-Vollzug und dem Beginn der Pandemie erwartet. In London selbst dürfte es kaum einen Wechsel geben. Labour-Bürgermeister Sadiq Khan, der erste muslimische Mayor an der Themse, weiss sich ziemlich sicher in einer Stadt, die relativ jung, ethnisch divers und weitgehend proeuropäisch ist.
Dagegen zeichnen sich in Nordengland, wo Johnsons Konservative 2019 unter dem Brexit-Banner tief ins alte Labour-Stammland vorstiessen, vielerorts bittere Machtkämpfe ab. Sir Keir Starmer, der im April vorigen Jahres an die Spitze der Labour Party rückte, tut sich schwer gegen die Tories. Er muss befürchten, nun sogar den schon immer «roten» Wahlkreis Hartlepool, in dem eine Unterhausnachwahl stattfindet, zu verlieren.
Skandale von «BoJo» sorgen für Nervosität bei den Tories
Andererseits weiss niemand so recht, wie viel Popularität Premier Johnson im Augenblick geniesst und was das für seine Partei bedeutet. Während Wochen fand sich «BoJo» dank der erfolgreichen Impfpolitik seiner Regierung ganz obenauf. Zuletzt hat ihm allerdings eine Reihe persönlicher Skandale geschadet. «Bei Leuten, die Boris nicht sonderlich mögen, könnte das den Ausschlag geben», sagte dazu ein nervöser Minister der Londoner «Times».
Das Hauptinteresse des Königreichs gilt allerdings den eigenwilligen Schotten, die ein neues Parlament für «ihre» Nation wählen. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon, die Vorsitzende der Schottischen Nationalpartei (SNP), hat diese Wahl ja schon zur «wichtigsten der schottischen Geschichte» erklärt. Sollte sie auf eine Mehrheit im Edinburgher Parlament kommen, würde Sturgeon dies als Wählermandat für die Ausschreibung eines neuen Referendums über schottische Unabhängigkeit interpretieren.
«In der ersten Hälfte» einer entsprechenden fünfjährigen Amtszeit solle dann eine solche Volksabstimmung abgehalten werden, hat sie erklärt. Tatsächlich stehen die Chancen nicht schlecht, dass die SNP-Chefin nun ihr «Mandat» erhält. Selbst wenn die SNP eine absolute Mehrheit knapp verfehlen sollte, könnte Sturgeon auf Schottlands Grüne Partei zählen, die wie die SNP für die schottische Unabhängigkeit eintritt und sich als Juniorpartnerin zur Durchsetzung eines Referendums anbieten würde in einem solchen Fall.
Etwas Ungewissheit ins Kalkül hat in letzter Minute nur Sturgeons im Unfrieden geschiedener Vorgänger Alex Salmond mit seiner neuen «Alba»-Partei gebracht. Salmond, der sich als der «wirkliche Kämpfer» für die Unabhängigkeit ausgibt, hat gelobt, bei seinem Einzug ins Parlament Sturgeon zu sofortigem Handeln zu zwingen – und notfalls zu einer einseitigen Ausrufung schottischer Unabhängigkeit.
Die SNP-Chefin will sich dagegen Zeit lassen mit ihrem Referendum – nur schon um zögernde Wähler nicht zu verprellen. Oberste Priorität, hat sie erklärt, bleibe in den nächsten Monaten der Kampf gegen die Pandemie. Keine Illusionen macht sich Schottlands Regierungschefin darüber, dass ihre Wiederwahl bereits ein Freibrief für eine neue Volksabstimmung wäre.
Dem ersten Unabhängigkeitsreferendum dieses Jahrhunderts, dem Referendum von 2014, hatte ja der damalige Tory-Premier David Cameron zugestimmt. Boris Johnson aber hat ein «Indyref2», ein zweites Referendum, kategorisch ausgeschlossen. Sollte er an dieser harten Linie festhalten, käme es zu einem regelrechten Verfassungskonflikt, bei dem womöglich die Gerichte das letzte Wort zu sprechen hätten.
Und würde ein Referendum erlaubt, wäre der Ausgang heute noch nicht vorauszusagen. Letzten Umfragen zufolge wollen genau 50 Prozent der Schotten ein unabhängiges Schottland. Die anderen 50 Prozent möchten das nicht.
Unabhängigkeitsidee wird selbst in Wales populärer
Experten lenken den Blick derweil ins kleine Wales, das am Donnerstag auch seine Volksvertretung, den Senedd, neu wählt. In Wales, das England aus historischen Gründen enger verbunden ist als Schottland, war der Wille zur Unabhängigkeit nie so ausgeprägt. Zur völligen Überraschung der Toppolitiker in London ergab eine Umfrage im März aber, dass 39 Prozent aller Bürger des «Fürstentums» sich mittlerweile ebenfalls vorstellen könnten, dem Vereinigten Königreich «goodbye» – oder «hwyl fawr» – zu sagen. Noch vor sechs Jahren waren es nur 3 Prozent.
Das wird die kleine Unabhängigkeitspartei Plaid Cymru vorerst nicht in eine Position katapultieren, wie sie in Schottland die «grosse Schwester» SNP innehat. Aber selbst die in Wales regierende Labour-Partei könnte nach den morgigen Wahlen auf einen Koalitionspartner angewiesen sein. Und Plaid Cymru hat die Frage der Abkoppelung von London zu einer zentralen Forderung ihres Wahlprogramms gemacht.
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