Leben mit wenig RessourcenDie Welt braucht Nomaden
Lange Zeit gab es starke Vorurteile gegen Menschen, die nicht sesshaft sind. Das ändert sich langsam – auch weil sie wissen, wie man schonend mit natürlichen Ressourcen umgeht
«Bis ich 13 war, bin ich barfuss gelaufen», erzählt Salim Alafenisch. Da gab es das erste Mal Sandalen. Und es gab noch mehr: Bald darauf entstand die erste Schule, eine Blechbaracke am Rande des Zeltlagers. «So wurde ich vom Kamelhirten zum Schuljungen.» Das war 1962 in der Negev-Wüste in Israel.
In der Schule unterrichtete kein ausgebildeter Lehrer, sondern jemand aus dem beduinischen Nachbarstamm, der lesen und schreiben konnte. Zuvor war Salim Alafenisch mit seinem Stamm herumgezogen, doch nun wurden seinem und den Nachbarstämmen Gebiete zugewiesen.
«Mein Volk hat viele kulturelle Wurzeln verloren. Wir leben nicht mehr im Einklang mit der Natur, und das tut der Seele weh.»
Alafenisch, Jahrgang 1948, lebt heute als Schriftsteller in Heidelberg. Er verleiht der beduinischen Kultur eine Stimme und hält mit seinen Geschichten die Erinnerung wach. «Mein Volk hat viele kulturelle Wurzeln verloren. Wir leben nicht mehr im Einklang mit der Natur, und das tut der Seele weh.»
Es könnte heute, je nach Zählweise und Quelle, noch zwischen 50 und 250 Millionen nicht sesshafter Menschen geben. «Es ist schwer, die Zahl nomadischer Menschen weltweit klar einzuschätzen, aber es gibt dennoch Einigkeit darüber, dass sowohl ihre nomadische Lebensweise als auch ihr Überleben in Gefahr ist und dass das Nomadentum selbst vor der Auslöschung steht», heisst es in der bis dato einzigen umfassenden Studie über Nomaden und Menschenrechte, die 2014 vom Juristen Jérémie Gilbert herausgebracht wurde.
Lebensphilosophie nicht verstanden
Auch wenn die Studie nun schon einige Jahre alt ist: Die Situation hat sich seither nicht gebessert, sondern verschlimmert. «Nomaden leben meist in kargen, unwirtlichen Gebieten, weit weg von den städtischen Zentren», erklärt Dawn Chatty, emeritierte Professorin für Anthropologie und Zwangsmigration an der University of Oxford. Diese entlegenen Gebiete, die zuvor noch ausserhalb des Blickfelds lagen, geraten jetzt zunehmend ins Visier für den Abbau von Rohstoffen.
Chatty fand heraus, dass Beduinen ein hoch rationales Verhältnis zur Umwelt und in Handelsfragen mit der sesshaften Bevölkerung haben. Das Bestreben der Nationalstaaten, umherziehende Menschen sesshaft zu machen, begründete auf einem «totalen Versagen, die Wirtschaft der umherziehenden Menschen zu verstehen», so Chatty.
Dank ihres umfassenden Verständnisses der Natur behandelten Nomaden sie so, wie es nötig sei, damit Land, Pflanzen und Tiere gut gediehen und gesund blieben. «Umherziehen ist eine lebensnotwendige Strategie, wo die Ressourcen rar sind.» In Zeiten des Klimawandels käme es darauf an, von ihrem jahrhundertealten Wissen, wie man mit extremen Bedingungen umgeht, zu lernen.
Kein Rechtssystem für Nomaden
Die Wissenschaftlerin war die treibende Kraft hinter einer internationalen Konferenz im Wadi Dana Nature Reserve in Jordanien im Jahr 2002: Hier wurde von politischen Entscheidungsträgern, Wissenschaftlern und Naturschützern die «Dana Declaration on Mobile Peoples and Conservation» ausgehandelt. Sie betonte erstmals den Beitrag, den nomadische Völker für Umwelt und Biodiversität leisten. Im Jahr 2003 wurde die Dana Declaration Teil des «Durban Accord» vom World Parks Congress der Weltnaturschutzunion IUCN (International Union for Conservation of Nature), der das internationale Vorgehen zum Schutz der Umwelt vereinbarte.
In einem Jahr ist eine Dana+20-Konferenz in Planung, und im Moment gibt es innerhalb der Uno Bemühungen, das Jahr 2026 zum «Global Year of Pastoralists» auszurufen. Denn immer noch werden Menschen aus ihren Gebieten vertrieben, weil sie nomadisch leben. «Das internationale Recht», so Jérémie Gilbert, der an der University of Roehampton in London unterrichtet, «ist ein Produkt sesshafter Bevölkerungen. Es ist somit zutiefst parteiisch.»
Wer keine Adresse, keine Geburtsurkunde besitzt, hat per se keinen Zugang zum Rechtssystem. Bis dato würden Unrechtshandlungen der Vergangenheit kaum aufgearbeitet, aktuelle Rechtsverletzungen fast nicht geahndet und so gut wie nie Entschädigung geleistet. Von 1795 bis 1945, schätzt der amerikanische Anthropologe John Bodley, kamen durch europäische Kolonisatoren über 50 Millionen Angehörige indigener Völker ums Leben, die Mehrheit davon war nomadisch. Ziel war es, sie zu «entfernen», um den Boden «produktiv» zu nutzen.
«Es ginge der Erde besser, wenn es mehr Nomaden gäbe.»
«Es ginge der Erde besser, wenn es mehr Nomaden gäbe», sagt Annegret Nippa, Ethnologie-Professorin in Leipzig. «Sie richten fast keinen Schaden an, nutzen nur das, was sie brauchen, und produzieren einen Mehrwert – wie Biofleisch, Wolle und ein gesundes, vitales Ökosystem.» Wenn es allerdings um Rohstoffförderung ginge, hätten die Nomaden gegen diese mächtigen Player keine Chance.
Vielfalt wegen nomadischer Tierhaltung
Da müsse es Koalitionen geben. Und vielleicht könne ein Wandel der öffentlichen Meinung helfen. Gonzalo Oveido arbeitet seit 20 Jahren in lokalen Projekten etwa in der Türkei, den Bergen Marokkos und in Spanien. «Während der Sommermonate, wenn es im Tiefland zu heiss ist, sind die Hirten mit ihren Herden im Hochland, im Winter wandern sie zurück.» Es sind ressourcenarme Gegenden, die sich oft nicht für Landwirtschaft eignen. Und doch gehört der Mittelmeerraum zu den artenreichsten Regionen der Welt – gerade wegen der jahrtausendealten Tradition nomadischer Tierhaltung.
«Studien haben gezeigt, dass wandernde Herden Saaten verbreiten, und sich neue Vegetationsgemeinschaften bilden», so Oveido, «besonders gilt das für Schafe.» Derartige Weiden sind kraftvolle Kohlenstoffspeicher; durch den Dung wird die Erde stabilisiert und mit Nährstoffen versorgt. Das regelmässige Abgrasen der Weiden beugt Bränden vor, Bäume können regenerieren und Wasserressourcen werden reguliert, weil Wasserquellen dort genutzt werden, wo sie vorhanden sind. Zudem braucht diese Tierhaltung am wenigsten fossile Rohstoffe.
Die grösste Herausforderung für die Zukunft ist, dass nomadische Communitys weiterhin Zugang zum Land haben sowie zu einer an sie angepassten Gesundheitsversorgung und Schulunterricht. Jonathan Davies arbeitet seit zehn Jahren als weltweiter Koordinator für Trockengebiete für die IUCN, zurzeit in Kenia. Es geht um grosse Landflächen, die Menschen sind arm und extrem verwundbar. 80 Prozent der Fläche Kenias sind Weiden. Wenn Investoren auf relativ kleinen Flächen intensive Landwirtschaft betreiben, führt das wegen des hohen Wasserverbrauchs zu einem ökologischen Desaster. Sind die nomadischen Communitys dann nicht mehr in der Lage, ihre Wirtschaft weiterzuführen, bestätigt es das alte Vorurteil, ihre Wirtschaftsweise sei ineffektiv. «Es ist ein allgemeines Muster», sagt Davies.
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