Offensive in der OstukraineDie Ukraine erobert Gebiete zurück – ist das die Wende?
Der Vorstoss bei Charkiw scheint die russische Armee jetzt schon so unter Druck zu setzen wie seit Monaten nicht mehr.
US-Aussenminister Antony Blinken sagte am Donnerstag bei seinem Besuch in Kiew über die derzeit laufenden Gegenangriffe der ukrainischen Armee: «Es ist noch sehr früh, aber wir sehen deutliche und echte Fortschritte vor Ort, insbesondere in der Gegend von Cherson, aber auch einige interessante Entwicklungen im Donbass im Osten.» Zuvor hatte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski erklärt, ukrainische Streitkräfte hätten mehr als 1000 Quadratkilometer zurückerobert.
Experten warnten zuletzt vor zu viel Optimismus. Wie sind also diese Stimmen aus Kiew zu bewerten? «Die ukrainischen Erfolge sind da. Ob sie in dem Masse da sind, wie zum Beispiel Selenski es behauptet hat, das vermag niemand zu sagen», erklärt Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München. «Es ist noch immer keine grosse Gegenoffensive, und wir wissen auch nicht, ob die ukrainischen Truppen in der Lage sind, das eroberte Gebiet in der Tiefe zu halten.»
Ukrainische Nadelstichaktionen
Mindestens der Vorstoss bei Charkiw scheint die russische Armee jetzt schon so unter Druck zu setzen wie seit Monaten nicht mehr. «Es erstaunt, wie schnell russische Verteidigungslinien kollabieren», sagt Masala. Wenn die Offensive wirklich bis zu 50 Kilometer hinter die Frontlinien vorgedrungen ist, dann wären wichtige Versorgungspunkte der russischen Armee bedroht. Laut Masala ist genau das die ukrainische Strategie: «Die Ukrainer machen Nadelstichaktionen, und ich vermute, sie zielen darauf ab, dass die russische Armee zumindest in Teilen zusammenbricht.»
Diese Vorstösse sind riskant. Angreifer haben in der Regel mehr Verluste als Verteidiger, und die russische Armee ist der ukrainischen zahlenmässig deutlich überlegen. «Wir wissen, dass der Preis für diese Erfolge extrem hoch ist», sagt Masala über die nur vage bekannten ukrainischen Verluste.
Sind die im Rahmen der Möglichkeiten erfolgreichen ukrainischen Gegenangriffe nun die Wende? Masala sieht eher die Innenpolitik der westlichen Staaten als Schlüssel zum weiteren Verlauf des Konflikts. «Die USA laufen auf die Midterms zu, und uns treffen die innenpolitischen Probleme durch steigende Preise. Also muss die Ukraine jetzt in die Offensive gehen und Erfolge zeigen, damit die Unterstützung weiterläuft.» Dieses Fenster für eine Offensive ist aber wahrscheinlich jahreszeitlich begrenzt, im Herbst, wenn sich die ukrainischen Äcker in Schlammwüsten verwandeln, sind Vorstösse mit Panzern kaum noch möglich.
Masala vermutet, dass Moskau auf diesen Moment wartet, in Kombination mit möglichen innenpolitischen Unruhen im Westen. «Dann wird Putin einen Waffenstillstand anbieten, vielleicht sogar etwas Territorium abtreten und auf dem Rest aber hocken bleiben. Olaf Scholz und Emmanuel Macron werden dann die Ersten sein, die nach Kiew reisen, um Selenski zu überzeugen, sich an den Verhandlungstisch zu setzen.»
«Kritische Phase»
Der Krieg in der Ukraine geht nach Einschätzung von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in eine «kritische Phase». Ukrainische Streitkräfte seien dank der Unterstützung aus Nato-Staaten zuletzt in der Lage gewesen, Moskaus Offensive im Donbass zu stoppen und Territorium zurückzuerobern. Das erklärte der Norweger am Freitag an einer Pressekonferenz mit US-Aussenminister Antony Blinken. Zugleich würden aber nun die Einheit und die Solidarität des Westens auf die Probe gestellt. Als Grund nannte Stoltenberg die Probleme bei der Energieversorgung und die steigenden Lebenshaltungskosten durch den russischen Krieg.
Nach Ansicht des Nato-Generalsekretärs ist es jetzt wichtig, dass diese Kriegsfolgen nicht zu einem nachlassenden Engagement für die Ukraine führen. «Der Preis, den wir zahlen, wird in Geld gemessen. Der Preis, den die Ukrainer zahlen, wird in Leben gemessen», sagte er. Zudem werde man einen noch viel höheren Preis zahlen, wenn Russland und andere autoritäre Regimes merkten, dass Aggression belohnt werde.
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