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José Mourinho und die AS Roma
Die Tränen des Propheten

Sichtlich bewegt: José Mourinho (r.) wurde nach dem Halbfinal-Sieg über Leicester emotional wie selten. 
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Bleiben werden die Tränen. Wer hätte José Mourinho, dem Narzissten aus Setúbal, schon öffentliche Tränen zugetraut? Als sich die Associazione Sportiva Roma, «la Roma», gegen Leicester für den Final in der Conference League in Tirana qualifiziert hatte, mit der üblichen Mühe natürlich, gemartert vom Gang auf der Via Crucis, die ihr ewig zugewiesen zu sein scheint, da wurde das Gesicht des portugiesischen Trainers ganz weich, die Augen glänzten.

Er verschwand schnell in die Katakomben des Stadio Olimpico, damit die Kameras diese emotionale Eruption nicht mitbekommen. Taten sie aber, es gab Bildmaterial für die Nachwelt. Eine römische Zeitung schrieb ergriffen: «Du kannst ein Lachen vorspielen, das geht leicht. Aber Weinen kannst du nicht erkünsteln.»

Mourinho bringt die Familie ins Spiel

«Mou» war bewegt vom Bewegtsein der Römer, ihr emotionales Pathos kann überwältigend sein. Er sagte dann noch, dieser Sieg gegen Leicester sei ein Sieg der «famiglia» gewesen. Wer den Italienern mit der Familie kommt, der heiligen, der gräbt sich tief hinein in die Psyche des Volkes. Mourinho, 59 Jahre alt, sitzt jetzt gewissermassen im obersten Geschoss des Kolosseums, hoch über den Kaiserforen, die Beine baumelnd.

Die Ansprache zur Familie war eine kommunikative Meisterleistung, selbst wenn sie nicht geplant war, eine wunderbare Übertreibung. In diesem Wettbewerb geht es ja nur um den kleinsten europäischen Pokal, die Champions League für die Armen, bei seiner ersten Vergabe überhaupt. Der Gegner am Mittwoch: Feyenoord Rotterdam, herzlich gehasst in Rom, nachdem seine rotzigen Fans den schönen Brunnen von Bernini auf der Piazza di Spagna einmal profaniert haben. 2015 war das, vor einem Spiel gegen die Roma in der Europa League. Man fürchtet deshalb in Tirana Zusammenstösse mit den Ultras aus Rom. Feyenoord ist ja auch nicht gerade Real Madrid. Doch die Roma hat halt noch nie so etwas Grosses gewonnen, der vorerst letzte europäische Final ist 31 Jahre her.

Der Marsmensch in Rom

Um Rom zu verstehen und diese fast devote Liebe der Romanisti für Mourinho, muss man die Geschichte des Marsmenschen kennen: «Un marziano a Roma», ein Marsmensch in Rom – so hiess ein surreales, tragikomisches Theaterstück aus dem Jahr 1954, später ein Film, nach einer Vorlage des wundervollen Ennio Flaiano, des besten Seelenschauers Italiens. Die Geschichte geht so: Eines Tages landet ein Raumschiff in der Villa Borghese, dem grossen Stadtpark Roms, ein Marsmensch entsteigt ihm, er heisst Kunt. Die Römer sind begeistert: Dieser Kunt von einem anderen Planeten, sagen sie sich, wird unser aller Leben besser machen. Sie feiern ihn überschwänglich, vergöttern ihn. Das dauert aber nicht lange an, dann lassen sie ihn fallen. In der zentralen Szene des Films fahren zwei Junge auf einem Motorrad an ihm vorbei: «Ah, marziano», sagt einer, «nimm das!» Und lässt einen fahren.

In der Überhöhung ist der Marsmensch in Rom zur Symbolfigur geworden für diese sehr italienische und noch mehr römische Neigung, jeden Dahergeflogenen sofort zum Propheten zu machen und dann schnell zu verspotten und zu verbrennen. Die Politik, die Kultur, der Sport – alle massgeblichen Bühnen des öffentlichen Lebens sind Durchlauferhitzer. Nur ganz selten gelingt es einem Propheten mal, sich länger zu halten.

Als wäre die Stadt seiner nicht würdig

Als die amerikanischen Besitzer der Roma im Frühsommer vor einem Jahr bekannt gaben, dass sie Mourinho in die Stadt bringen würden, den einst phänomenal erfolgreichen und zuletzt etwas weniger glücklichen Trainer, da war zunächst viel Ungläubigkeit: «Der Special One – tatsächlich, zu uns?» Als wären die Stadt, der römische Fussball und der Verein des bekannten Namens nicht würdig. Zehn Jahre davor hatte Mourinho mit Inter Mailand das Triple gewonnen: italienische Meisterschaft, Cup und Champions League. In jüngerer Vergangenheit war er dann eher Normal One: Manchester United, Tottenham Hotspur.

An den unsäglich geschwätzigen römischen Lokalradios verhandelten sie Tag und Nacht die Frage: «Special One oder Suppenfleisch?» In der Summe: alle ziemlich euphorisch. Im Quartier Testaccio tauchte ein Wandgemälde auf, das Mourinho auf einer weissen Vespa zeigt wie einst Gregory Peck in der Filmromanze «Vacanze romane», den gelbroten Schal des Vereins um den Hals. Eine Ikone als Versprechen, ein fetter Hauch Dolce Vita.

Eroberte die Stadt im Eiltempo: José Mourinho als Wandgemälde im Quartier Testaccio.

Wochenlang rätselte die Stadt, wo Mourinho wohl wohnen würde. Am Ende wählte er eine hübsche Bleibe im Residenzviertel Parioli, ausgerechnet: Es ist das einzige im Zentrum, in dem die Rivalen von Lazio wohl mehr Fans haben. Dafür liegt es sehr nahe beim Stadion. Die römische Zeitung «La Repubblica» brachte ein Schnellbuch an die Kioske – mit dem Titel: «Il marziano». Für Mourinhos Vorstellung wurde die Terrazza Caffarelli auf dem Kapitolshügel gemietet, freie Sicht auf die Pracht der Antike, viel besser kann es nicht kommen.

Bei «Mou» klingt Lazio wie «Lasio», aber sonst: ein Kenner von allem Italienischen.

So begann die Liebe. Mourinho nahm sich die Stadt, man darf sich das auch ein bisschen körperlich vorstellen. Seit seiner Zeit bei Inter spricht Mourinho hervorragend Italienisch. Nicht perfekt, manche Wörter kommen zu weich, portugiesisch eingefärbt: Bei «Mou» klingt zum Beispiel Lazio wie «Lasio». Doch der Tribun hat den Wortschatz für seine rhetorische Herrschaft über die Stadt, den Intellekt hat er sowieso. Mourinho sagte einmal: «Wer nur etwas von Fussball versteht, versteht nichts von Fussball.» Oder anders: Fussball ist nicht einfach Fussball, schon gar nicht der Calcio. Im Fussball vermischt sich alles.

Mourinho versteht die Italiener, das ist seine Stärke. Er kann auch mal über die soziale Bedeutung des Musikfestivals von Sanremo dozieren, weil er sie studiert hat. Seine ständige Weinerlichkeit über unliebsame Schiedsrichter? Sie wird hier gern geteilt, sie schweisst zusammen. Einmal sagte er: «Sie wollen uns das Recht wegnehmen, Spiele zu gewinnen.» Wir gegen den Rest der Welt – Mourinhos alter Trick funktioniert, er diente manchmal auch der Ablenkung.

Die Ablenkungsmanöver wirken

Sportlich war dieses erste Jahr seines dreijährigen Vertrags nämlich durchzogen: sechster Schlussrang in der Meisterschaft nur, einen Punkt hinter Lazio. In den ersten Runden gewann die Roma allerdings alle ihre Spiele, eines in der Nachspielzeit: 91. Minute, gegen Sassuolo. Und «Mou» sprintete unter die Curva Sud, als wäre man gerade Meister geworden. Das war ein bisschen lächerlich, aber herrlich wirksam. Die Fans liebten ihn auch noch, als die Roma dann plötzlich sehr durchschnittlichen Fussball spielte. Mourinho war nie ein moderner Ästhet des Spiels: tief stehen, auf Konter warten, das ist nicht sehr aktuell. Im norwegischen Bodø verloren die Römer dann aber einmal sogar 1:6. Die ganze Schmach, man lachte sie einfach weg, immer noch trunken vom Glück, dass dieser Mourinho Rom ausgesucht hat.

1,1 Millionen Zuschauer kamen allein zu den Heimspielen der Roma, obschon die Arenen in Italien wegen der Pandemie nur zur Hälfte gefüllt werden durften. Alle Rekorde wurden geschlagen, vor allem seinetwegen, wegen der Euphorie um «Mou».

Diese Saison strömten im Schnitt über 40’000 Zuschauer pro Match ins Stadio Olimpico, trotz Pandemie – ein Rekord. 

Er klagte auch mal über das dürftige Niveau seiner Mannschaft, was für die nicht gerade nett war, und rief sie dazu auf, sich selbst auf sein Niveau zu hieven. Es hörte sich so an, als habe er eine Provinztruppe geerbt. Doch so schwach ausgestattet ist die Roma gar nicht. Mourinho durfte sich auch einige Spieler wünschen: Der englische Mittelstürmer Tammy Abraham etwa kam für mehr als 50 Millionen Euro vom FC Chelsea; der portugiesische Nationalgoalie Rui Patricio ist auch nicht gerade ein Entenzüchter; der usbekische Angreifer Eldor Shomurodov, auch sehr teuer, gilt zumindest daheim als «der Messi Usbekistans». Zuletzt gestattete ihm die Vereinsleitung aus Texas auch die Verpflichtung des Mittelfeldspielers Sérgio Oliveira vom FC Porto, wo seine Trainerkarriere begann. Sonst noch im Aufgebot, unter vielen anderen: Chris Smalling, Henrich Mchitarjan, Lorenzo Pellegrini und Nicolò Zaniolo. Ziemlich viele Leute mit Niveau also.

Mourinhos Motivationsansprachen vor Spielen dauern noch immer nur acht Minuten, offenbar keine Minute mehr. Aber das ist ja ohnehin nur die kleine rhetorische Form. Der Prophet predigt die ganze Woche hindurch, er schwebt über der Stadt.

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