Verkehrsexperiment in ZürichBellerivestrasse: Warum die Stadt den Spurabbau doch versucht
Ab Sommer 2023 können Autos nur noch einspurig von der Goldküste nach Zürich und zurück fahren. Der Versuch dauert acht Monate. Die Bewilligung der Kantonspolizei steht noch aus.

Dasselbe nochmals – unter etwas anderen Vorzeichen. In etwa so könnte man die Pläne für die Bellerivestrasse zusammenfassen, welche Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart (Grüne) am Montagabend einem Kreis von Betroffenen unter Ausschluss der Medien präsentiert hat.
Ab kommendem August testet die Stadt auf der Hauptverkehrsachse während acht Monaten eine temporäre Spurreduktion in beide Richtungen. Grund für den Versuch ist die längst überfällige Sanierung der Strasse. In Hinblick darauf will die Stadt herausfinden, wie sich der Verkehrsablauf mit zwei Spuren verändert. Dazu finden Vor- und Nacherhebungen statt. Mathias Ninck, Sprecher des Sicherheitsdepartements, sagt: «Der Versuch ist ergebnisoffen und soll Erkenntnisse für das Bauprojekt bringen.» Danach herrsche Klarheit – für alle, so das Ziel.
Konkret stehen dem motorisierten Individualverkehr im Abschnitt zwischen der Falken- bis zur Ida-Bindschedler-Strasse pro Richtung je nur eine Spur zur Verfügung, also auf der Strecke zwischen Opernhaus und Badi Tiefenbrunnen. Dazu kommen stadtein- und -auswärts je ein Velostreifen. Im Bereich Bellevue und Tiefenbrunnen werden die beiden Spuren pro Richtung belassen. Am Verkehrsregime wird nichts geändert, Tempo 50 wird beibehalten. An gewissen Orten gibt es minimale bauliche Anpassungen, etwa Mittelinseln. Zudem werden Markierungen, Signalisationen und Steuerungen justiert.
In etwa so hatte es auch der ehemalige Tiefbauvorsteher Richard Wolff (AL) in seinem Versuch vorgesehen, den er vor zwei Jahren angekündigt hatte. Mit dem Unterschied, dass er die Involvierten – bürgerliche Parlamentarier, Vertreter aus dem Bezirk Meilen, den Kanton, den TCS und die Mitglieder der Begleitgruppe – zuvor nicht über sein Vorgehen informiert hatte. Entsprechend gross war die Verärgerung. Die Meinung vieler: Die Spur werde nicht nur versuchsweise, sondern definitiv abgebaut. Wolff zog das Experiment daraufhin zurück, das Dossier übernahm Sicherheitsvorsteherin Rykart.
Zu wenig Platz für vier Spuren
Verändern wird sich die Bellerivestrasse aber auch unter der Ägide Rykart. Ausschlaggebend ist der Platz: Die bestehende Strasse ist zu schmal, um darauf nach der Sanierung vier normgerechte Spuren zu führen. Um diese zu erhalten, müssten Trottoirs verkleinert und Bäume gefällt, allenfalls sogar Häuser geschleift werden. Mit weniger Autospuren wäre das nicht nötig. Und auf den freien Flächen gäbe es Platz für Velospuren und zusätzliche Bäume zur Hitzeminderung.
Der Versuch soll nun zeigen, ob eine Verkehrsführung mit grösstenteils je einer Spur pro Richtung auch in der Realität funktioniert. In der Theorie zumindest wäre sie möglich. Das haben bereits mehrere Studien und Simulationen gezeigt.
Rykart liess sich bewusst Zeit, um das Thema neu anzugehen. Ihr zentraler Punkt: Der Versuch kann jederzeit abgebrochen werden. Sind die sogenannten Abbruchkriterien erfüllt, werde der Versuch unverzüglich abgebrochen. Oder auch, wenn Probleme auftreten würden, wie es in der Präsentation der Stadt heisst. Bis im kommenden Frühjahr formuliert die Stadt die Kriterien. Die Daten und Messungen sollen zudem jederzeit offengelegt werden.
Die ersten Messungen sind bereits im Gange. Seit dem 19. September werden auf der Strecke die Verkehrsmengen, der Rückstau und die Reisezeiten gemessen. Auf den Quartierstrassen im Seefeld registriert zudem ein Radar die Verkehrsmengen. Die Messung dauert bis zum 2. Oktober und wird im gleichen Zeitraum 2023 wiederholt.
Scheitern eingestehen
Zumindest, was die Transparenz angeht, scheint Rykart mit ihrer Versuchsanordnung über alle Lager hinweg zu punkten. FDP-Kantonsrat Marc Bourgeois sagt: «Das ist eine andere Vertrauensbasis.» Wenn bei der Versuchsanordnung nicht getrickst werde und alle Versprechungen eingehalten würden, könne der Versuch aussagekräftig sein. Dennoch hat er Vorbehalte. Besonders der Verkehr auf den Quartierstrassen müsse genau beobachtet werden. Zudem müsse ein ehrlicher Versuch auch scheitern können und tatsächlich abgebrochen werden, wenn es Probleme gebe. Und ganz grundsätzlich müsste der Versuch alle rechtlichen Bestimmungen einhalten. Sprich: Der Kanton muss sein Einverständnis geben.

Dafür ist ein entsprechendes Gesuch bei der Kantonspolizei nötig. Ein solches ist noch nicht eingegangen, wie es auf Anfrage heisst. Anhand der erläuternden Unterlagen werde die Kantonspolizei einschätzen, wie sich der Verkehr auf die Durchgangsstrassen ausserhalb des Stadtgebietes auswirke, und das Gesuch entsprechend beurteilen.
Stau auf der Forchstrasse
Diese Sorge plagt auch die Vertreter und Vertreterinnen aus den Seegemeinden. Die Küsnachter FDP-Gemeinderätin Pia Guggenbühl, Präsidentin der IG Bellerue, befürchtet mehr Stau auf der Forchstrasse und bis nach Zollikon. Die Bevölkerung am rechten Seeufer sowie das Gewerbe seien auf eine funktionierende überkommunale Verkehrsachse angewiesen. Guggenbühl spricht von einem «Pseudoversuch». Denn sonst hätte Stadträtin Rykart ergebnisoffen Lösungen gesucht – getestet werden solle indes nur der Spurabbau.
«Die Reduktion der Fahrspuren führt automatisch zum Verkehrskollaps.»
Die SVP der Stadt Zürich lehnt das Vorhaben der Stadt grundsätzlich ab. Die Bevölkerung und das Gewerbe würden dadurch «drangsaliert». Gemeinderat Stephan Iten sagt: «Die Reduktion der Fahrspuren führt automatisch zum Verkehrskollaps.» Kritisch stehen dem Versuch auch der Gewerbeverband der Stadt Zürich und der Gewerbeverein Seefeld gegenüber.
Gemässigter äussert sich der TCS. Er steht dem Versuch grundsätzlich positiv gegenüber. Ein Kapazitätsabbau beim motorisierten Individualverkehr dürfe aber nicht das Ziel sein. Zudem könnte die Veloroute auch auf der Dufour- oder Seefeldstrasse geführt werden.
Res Marti, Präsident von Pro Velo Zürich und ehemaliger Gemeinderat der Grünen, hat dabei seine Zweifel. Die Bellerivestrasse bietet sich aus seiner Sicht geradezu für den Alltagsveloverkehr an. Er wiederholt aber, was Rykart bereits betont hat: Grund für den Versuch seien nicht die Velorouten, sondern das Bauprojekt. «Funktioniert der Versuch, und er wird es, sehen wir weiter.»
Korrektur 28.9.2022, 14.45 Uhr: In einer früheren Version des Artikels stand, der Gewerbeverband stehe dem Versuch grundsätzlich positiv gegenüber. Richtig ist, dass der Gewerbeverband der Stadt Zürich und der Gewerbeverein Seefeld dem Versuch kritisch gegenüberstehen.
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