Österreichs Kanzler-Partei in der Krise«Die ÖVP hat jetzt ein Zukunftsproblem»
In Österreich kursiert gerade der Witz: Nur noch drei Kanzler, dann ist Weihnachten.
Wie die Regierung nach dem Rückzug von Sebastian Kurz endlich wieder zur Ruhe kommen will.
Sebastian Kurz war zuletzt gleich zweimal zurückgetreten, Anfang Oktober als Kanzler, am vergangenen Donnerstag dann auch als Kanzler in spe. Die Abschiedsrede des 35-Jährigen war ein meisterhaftes Beispiel für einen gekonnten Auftritt: Er habe sich gejagt gefühlt, sagte er, habe sich ständigen Anschuldigungen und Vorwürfen gegenübergesehen, werde aber seine Unschuld beweisen – und liebe die Politik.
Die verhassten Worte «Staatsanwaltschaft» und «Ermittlungen» wegen Inseratekorruption, in denen es um Bestechlichkeit, Bestechung, und Untreue geht und die sein Leben zuletzt massgeblich bestimmten, kamen aber nicht vor. Seine Präsentation war die eines offenherzigen jungen Mannes, der sich jetzt um seinen kleinen Sohn kümmert.
Der Ex-Kanzler war immer ein professioneller Verkäufer, der die politischen Botschaften und ihre Umsetzung in den Medien kontrollierte. Mit dem Ende der Ära Kurz und dem Austausch zumindest einiger seiner engsten Mitarbeiter ist nicht nur der Kontrollwahn, sondern auch die Macht selbst aus dem Kanzleramt am Ballhausplatz gewichen.
Tirol wollte einen Tiroler
Johanna Mikl-Leitner aus Niederösterreich, sie ist die mächtigste unter den Landeshauptleuten, sagte: der Neue an der Spitze sei ein «Mann von Format». Das klingt nach Erfahrung, nach Schwergewicht, nach dem Hobby-Boxer, der Innenminister und Ex-Generalsekretär Karl Nehammer ist. Er ist ein Law-and-Order-Mann, der als erklärter Kurz-Fan, aber auch als Soldat mit solider Ausbildung und Führungserfahrung die Partei wieder einen soll.
Nehammer durfte das Kabinett ein wenig umbauen, aber letztlich wurde das für ihn entschieden: Der Landeshauptmann aus Tirol legte fest, dass die aus Tirol stammende Wirtschaftsministerin bleiben darf, der Landeshauptmann aus der Steiermark setzte einen steirischen Bildungsminister, der Vorarlberger einen Vorarlberger Finanzminister und die Niederösterreicherin neben Nehammer, der in ihrem Bundesland seinen Aufstieg begann, auch einen Innenminister aus Niederösterreich durch.
Mikl-Leitner sagte auch: Der Rückzug von Kurz sei «die richtige Entscheidung, um in der ÖVP wieder geordnete Verhältnisse herzustellen». Mit Kurz hatte es alles andere als geordnete Verhältnisse gegeben – und das nicht erst seit den Krisentagen im Herbst 2021. Es gab von Anfang an Aufregung und Begeisterung, Verführung und Tabubrüche, super Zahlen und harte Sprüche, gute Manieren und böse Intrigen, üble Angriffe auf die Justiz und Charmeoffensiven in den Boulevardmedien – aber kaum Verlässlichkeit, ruhige Fahrwasser, politische Normalität.
Popularität sank auf 20 Prozent
Wie wenig Solidität, wie wenig politische Normalität es in der ÖVP wirklich gab, stellte sich erst mit den 334’000 Chats von Kurz-Intimus Thomas Schmid heraus, deren Bekanntwerden nach dem Ibiza-Video sukzessive zum aktuellen Niedergang der ÖVP beitrug. In den Hochphasen der Popularität von Kurz lag die Partei bei knapp 40 Prozent. Jetzt sind es in manchen Umfragen knapp über 20. Das verzeiht eine Partei nicht. Auch deshalb musste er gehen.
Noch drückt man sich in der ÖVP vor klaren Worten, vor eindeutigen Distanzierungen. Zu einflussreich sind noch die verbliebenen Kurzisten. Eine Stimme aus der ÖVP, die ungenannt bleiben möchte, meint: keiner sage, warum der Mann denn gehe, wenn er doch so toll gewesen sei. «Feigheit» nennt sie, dass keiner der mächtigen Parteigranden den Mut habe, sich ins Fernsehen zu setzen und zu sagen, was für ein schillernder Faun Kurz gewesen sei.
In den Medien sind nun die Analysen brutaler. Man kann es sich mit dem Ex-Kanzler, der beleidigt fragt, warum «an jedem Unrecht immer ich schuld sein soll», jetzt nicht mehr verscherzen. Und er ruft auch nicht mehr bei jeder Tages- und Nachtzeit mit einer Beschwerde oder einer Anregung zur Berichterstattung über seine eigene Person an und lässt auch nicht mehr anrufen.
Mit 27 Aussenminister – mit 34 Kanzler
Nicht nur innerhalb der ÖVP, sondern auch im Verhältnis zur Öffentlichkeit, zu ihrer Basis, zu den Wählern, ist etwas zerbrochen. Der Mann, der die Gemüter bis heute so erregt, war mit 24 Jahren, ohne abgeschlossenes Studium, Integrationsstaatssekretär geworden und als Leichtgewicht ausgelacht worden; die Rede war von «Verarschung» und «PR-Gag». Sein Selbst- und Sendungsbewusstsein, seinen unbedingten Aufstiegswillen bremste das nicht. Kurz traute sich mit 27 Jahren das Aussenamt zu und mit 31 das Kanzleramt, und er schaffte ja auch alles, was er sich vornahm, unter dem Staunen und der wachsenden Bewunderung einer dankbaren Partei.
Vielleicht betonen Parteifreunde, die mit ihm aufgestiegen sind, mit ihm aber nicht untergehen wollen, deshalb auch ständig vor allem, Sebastian Kurz sei eben ein Ausnahmetalent gewesen. Ausnahmetalent, das klingt wie ein Wunderkind, das sich zu früh verausgabt hat, aber auch zu früh verheizt worden ist.
Reinhold Mitterlehner, der von Kurz gestürzte Parteichef und Vizekanzler in der Grossen Koalition, war 2017 zurückgetreten, weil er kein «Platzhalter» sein wollte. Er hat ein Buch geschrieben und darin mit Kurz abgerechnet – und mit jenen in der Partei, die sich mit dem jungen Widersacher gegen ihn verbündet hatten.
Auch er betont, Kurz sei ein politisches Talent, aber eben zu früh, zu schnell hochgekommen. Einmal an der Macht, habe er «seine Versprechen nicht gehalten, Anspruch und Wirklichkeit klafften immer auseinander». Kurz , der Mitterlehner in Chats einen «Arsch» nannte, habe das Vertrauen in die Politik beschädigt. «Die ÖVP hat jetzt ein Zukunftsproblem. Wie sollen junge Leute Politikern noch glauben, wenn alle vier Wochen andere Ansagen kommen und jemand anderer an der Spitze steht?»
Karl Nehammer, immerhin der dritte ÖVP-Kanzler allein in diesem Jahr, wird am Montag vereidigt werden. Zunächst wird aber Alexander Schallenberg entlassen, der Schattenkanzler mit der wohl kürzesten Kanzlerschaft in der österreichischen Geschichte: genau 52 Tage. Jetzt wird Schallenberg wieder Aussenminister. Auch Sebastian Kurz liegt übrigens, was seine Amtszeit angeht, in der Zweiten Republik mit 1175 Tagen im unteren Drittel.
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