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#MeToo in Griechenland
Die Mauer des Schweigens bricht

Sie wurde vor 23 Jahren von einem hohen Funktionär des griechischen Seglerverbands vergewaltigt: Olympiasiegerin und Weltmeisterin Sofia Bekatorou.
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Die #MeToo-Debatte hat Griechenland mit mehr als dreieinhalb Jahren Verzögerung erreicht, dafür aber mit grosser Wucht. Vertuschungsvorwürfe haben die Regierung aufgewühlt, Regierungschef Kyriakos Mitsotakis wählte grosse Worte, als er Anfang vergangener Woche zum Internationalen Frauentag erklärte, dieses Jahr sei vieles anders als zuvor, es gebe nun «eine Wunde, die aber auch eine Chance auf Heilung hervorgebracht hat». Dann pries der Premier jene «laute Stimme, die die schuldvolle Stille gebrochen hat». Diese sei nur der Anfang, ihr müssten nun «Entschlossenheit des Staates und gesellschaftliche Reife folgen. Dies ist der Pfad, den Griechenland jetzt beschreitet.» Es waren offensive Worte, nachdem Mitsotakis selbst zuletzt in die Defensive geraten war. Die Opposition, vor allem in Gestalt des Syriza-Vorsitzenden Alexis Tsipras, hatte Mitsotakis aufgefordert, endlich Verantwortung zu übernehmen und die Kulturministerin zu entlassen, Linda Mendoni, übrigens eine von nur zwei Frauen im griechischen Kabinett, die im Umgang mit schweren Vorwürfen gegen den ehemaligen künstlerischen Direktor des Athener Nationaltheaters eine alles andere als souveräne Figur gemacht hat.

Auffallend passive Ministerin

Der 56-jährige Dimitris Lignadis, der auch als Schauspieler in Griechenland prominent ist, sitzt seit Ende Februar in Untersuchungshaft; zwei Männer beschuldigen ihn, er habe sie sexuell missbraucht, als sie noch Minderjährige waren. Vergangene Woche meldete sich ein weiteres mutmassliches Opfer mit Vergewaltigungsvorwürfen zu Wort. Lignadis trat am 6. Februar von seinem Posten als künstlerischer Leiter zurück, bestritt aber die bis dahin erhobenen Vorwürfe vehement und beklagte ein «giftiges Gerüchteklima».

Die Kulturministerin verhielt sich zu alledem lange auffallend passiv – bis öffentlich wurde, dass sie Dimitris Lignadis im Jahr 2019 ohne das übliche Ausschreibungsverfahren auf den Posten an der Spitze der Nationaltheaters gesetzt hatte, unter Berufung auf ein entsprechendes «öffentliches Interesse». Plötzlich wandte Ministerin Mendoni sich gegen ihren einstigen Schützling, nannte ihn öffentlich einen «sehr gefährlichen Menschen». Lignadis habe seine herausragenden Fähigkeiten als Schauspieler genutzt und «uns und mich getäuscht», erklärte die Ministerin. Die abrupte Kehrtwende allerdings befeuerte die Rücktrittsrufe aus der Opposition eher noch mehr.

Der 56-jährige Dimitris Lignadis, der auch als Schauspieler in Griechenland prominent ist, sitzt seit Ende Februar in Untersuchungshaft.

Auch weitere prominente Schauspieler und Regisseure sahen sich plötzlich Missbrauchsvorwürfen ausgesetzt. Und viele der mutmasslichen Opfer, die sich jetzt an die Öffentlichkeit wagten, bedankten sich bei der Profiseglerin Sofia Bekatorou dafür, dass sie als Erste das Schweigen gebrochen habe. «Sie weiss gar nicht, wie viel Gutes sie getan hat», sagte etwa die Schauspielerin Jenny Botsi in einem Fernsehinterview: «Sie hat einen Weg gebahnt, und wir haben die Gelegenheit ergriffen.»

Sofia Bekatorou, Olympiasiegerin und Weltmeisterin, hatte am 14. Januar auf einer Onlineveranstaltung des griechischen Kultur- und Sportministeriums davon berichtet, wie sie vor 23 Jahren von einem hohen Funktionär des griechischen Seglerverbands vergewaltigt worden sei. «Ich sagte Nein, ich wiederholte, dass ich nicht weitermachen wollte, und er, mit seinem Süssholzgeraspel, sagte, es sei doch nichts, er spielte alles herunter.» Anschliessend habe sie sich «schmutzig, erschöpft, erniedrigt» gefühlt – und «ausserstande, meine Rechte zu behaupten».

Im Gleichstellungsindex der Europäischen Union liegt Griechenland seit zehn Jahren auf dem letzten Platz aller Mitgliedsländer.

Der Beschuldigte trat darauf von seinen Posten im Nationalen Olympischen Komitee Griechenlands zurück, liess allerdings verlauten, er wolle damit lediglich die Reputation des Komitees schützen. Die Anschuldigungen seien «falsch, verleumderisch und hinterlistig».

Auf die Frage aus dem Vorstand des Seglerverbandes, warum sie sich denn erst jetzt damit aus der Deckung wage, erwiderte Sofia Bekatorou, sie habe damals nicht ihren «olympischen Traum aufs Spiel setzen» wollen. Jetzt aber hoffe sie, dass weitere Frauen sich vorwagen und reden, «damit unsere Gesellschaft gesünder wird und wir keine Angst mehr haben».

Tatsächlich herrscht in Griechenland bis heute ein Klima des Schweigens, Missbrauchsvorwürfe werden selten erhoben, die Opfer fürchten in vielen Fällen, selbst als Schuldige dazustehen. Im Gleichstellungsindex der Europäischen Union liegt Griechenland seit zehn Jahren auf dem letzten Platz aller Mitgliedsländer, obwohl zuletzt der Anteil von Frauen in Firmenvorständen und im Parlament gestiegen ist. Wobei weiterhin nur ein Fünftel aller Parlamentarier weiblich ist.

«Verachtung, Hohn, soziale Stigmatisierung»

Doch seit Januar 2020 hat Griechenland zum ersten Mal eine Frau als Staatsoberhaupt, Katerina Sakellaropoulou, frühere Präsidenten des obersten Verwaltungsgerichts. Und die hat sich nach den öffentlichen Äusserungen der Olympiasiegerin sehr deutlich positioniert: Sofia Bekatorou habe eine «Verschwörung des Schweigens» aufgebrochen, sagte die Präsidentin. Viele Opfer wagten es nicht, über ihre Erfahrungen zu sprechen, «weil sie wissen, dass sie bestenfalls Mitleid oder Misstrauen erfahren – und schlimmstenfalls Verachtung, Hohn, soziale Stigmatisierung». Es gelte nun, sagte Sakellaropoulou, der «Straflosigkeit für die Täter dieser Verbrechen ein Ende zu setzen und ein Wertesystem zu schaffen, in dem Frauen nicht als potenzielle Beute behandelt werden».

Um den Wandel anzustossen, hat die Regierung eine Website geschaltet, auf der Betroffene ihre Erfahrungen melden können. Premier Mitsotakis kündigte an, härtere Strafen für sexuelle Übergriffe einzuführen. Und das Kulturministerium will einen Verhaltenskodex für staatliche Kulturinstitutionen schaffen – und ruft den nationalen Schauspielerverband bereits jetzt dazu auf, alle Missbrauchsvorfälle künftig den Behörden zu melden.