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Die Ideologie des IS wirkt auch in der Schweiz weiter

Die Forscher konnten anonymisierte Daten von 130 radikalisierten Individuen auswerten: Muslime beim Gebet in einer Moschee. (Foto: EPA/Robin van Lonkhuijsen)
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Erstmals liegt eine umfassende Studie zur jihadistischen Radikalisierung in der Schweiz vor. Dass dieses Werk erst jetzt erscheint, erklärt sich vor allem mit der unsinnigen Geheimniskrämerei der Bundesbehörden.

Das Phänomen der jihadistischen Radikalisierung sei in der Schweiz nicht kleiner geworden, sondern habe nur andere Formen angenommen. Das sagte Miryam Eser-Davolio von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), als sie an einer Medienkonferenz eine Studie zum Thema Radikalisierung vorstellte. Bei ihrer Einschätzung stützt sie sich auch auf Gespräche mit Mitarbeitenden des Bundesamts für Polizei (Fedpol) und des Nachrichtendiensts des Bundes (NDB). Nach der militärischen Niederlage des Islamischen Staats in Syrien und im Irak würden radikalisierte Personen nicht mehr ins dortige Kriegsgebiet reisen. Das hiesse aber nicht, dass sie nicht auf andere Weise aktiv würden. Die Ideologie des IS wirke weiter – auch in der Schweiz.

Tiefes Bildungsniveau

Die letzten bekannten Jihad-Reisenden haben die Schweiz 2016 in Richtung islamisches Kalifat verlassen. Dass die Studie somit mindestens drei Jahre zu spät kommt, ist nicht der Fehler der Forscher. Schuld sind vor allem die Bundesbehörden, allen voran der NDB, welcher die Datensätze zu den radikalisierten Personen so lange zurückhielt, bis deren wissenschaftliche Auswertung kaum noch Erkenntnisgewinn brachte. Vieles von dem, was die Studie nun belegt, hat die Redaktion Tamedia – in unwissenschaftlicher Form und gestützt auf einen kleineren Datensatz – schon vor zwei Jahren bekannt gemacht.

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Die Forscher konnten anonymisierte Daten von 130 radikalisierten Individuen auswerten, die ihnen der NDB zur Verfügung gestellt hatte. Weil die Statistik des NDB nur 77 Personen aufzählt, die in den Jihad nach Syrien und in den Irak gereist sind, handelt es sich um eine recht grosse Stichprobe. Darin befinden sich zum Beispiel auch Personen, die an der Ausreise gehindert wurden oder die wegen jihadistischer Propaganda im Internet auffielen. Auffällig ist der hohe Anteil junger Männer, während Frauen nur gerade elf Prozent ausmachen. Während das Durchschnittsalter bei 28 Jahren liegt, ist fast jede fünfte radikalisierte Person zwischen 15 und 20 Jahren alt. Der Anteil der Konvertiten an den Jihadreisenden ist mit 20 Prozent auffallend hoch.

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Das Bildungsniveau der Betroffenen ist eher tief. Viele Männer in der Stichprobe wurden offenbar durch ihr Umfeld radikalisiert. So wurden 93 von 97 Individuen von Gleichaltrigen beeinflusst. Bei den Frauen waren das vor allem die Beziehungspartner. Die Studie schliesst daraus, dass die sozialen Kontakte der Betroffenen massgeblich Einfluss auf die Radikalisierung hatten. Solche Kontakte gibt es im Freundeskreis, in Moscheen, an Islamseminaren und bei der Missionierungsarbeit. 29 von 99 Personen, von denen Daten bekannt waren, machten bei der islamischen Missionierung mit, darunter die Koranverteilaktion «Lies!». Die meisten der radikalisierten Individuen haben einen Migrationshintergrund, wobei ein Grossteil davon schon während ihrer Kindheit oder Jugend in der Schweiz sozialisiert wurde. Am stärksten betroffen sind Menschen vom Balkan, gefolgt von Nordafrika, der Region West- und Südeuropa sowie vom Nahen und Mittleren Osten.

Bei der Verteilung innerhalb der Schweiz kommt die Genferseeregion an erster Stelle, gefolgt vom Espace Mittelland, der Region Zürich und der Nordwestschweiz. Gemessen an der muslimischen Bevölkerung fiel der Anteil der radikalisierten Personen besonders hoch im Tessin und rund um den Genfersee aus.

Hoher Fürsorgeanteil

Rund 40 Prozent der erfassten Individuen sind auf Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, Invalidenrente oder Flüchtlingshilfe angewiesen. Diese an sich höchst interessante Feststellung wirft für die Autoren bloss Fragen auf bezüglich der möglichen Distanzierung der radikalisierten Individuen von der Gesellschaft und des «sozialarbeiterischen Umgangs mit diesen Personen sowie deren wirtschaftlichen und sozialen Reintegrationsmöglichkeiten». Viel spannender wäre aber die Frage, ob Menschen, die nicht arbeiten, zu viel Zeit für Internet und Religion haben und dadurch anfälliger werden für Rekrutierer und andere Rattenfänger. Und vor allem, was der Staat gegen dieses wohl offensichtliche Phänomen unternehmen könnte. Die Schlussfolgerung ist ja wohl auch, dass der Sozialstaat unwissend so manchen Radikalisierungsprozess und in bestimmten Fällen sogar die Ausreise von Jihadisten subventioniert hat.

Die ZHAW und Eser-Davolio haben schon 2015 eine Studie mit ähnlichem Forschungszweck veröffentlicht. Dieses Papier erreichte aber bestenfalls das Niveau einer Seminararbeit. Nicht einmal das Durchschnittsalter der Jihad-Reisenden war darin aufgeführt. Befremdend wirkte damals, dass eines der ersten Mitglieder des Islamischen Zentralrats Schweiz im Forschungsteam mitarbeitete. Dass das aktuelle Papier um Welten besser ausgefallen ist, hat nicht nur mit dem grösseren Datensatz zu tun, sondern auch mit ausgezeichneten Mitarbeitenden wie Mallory Schneuwly-Purdie (Universität Freiburg), Johannes Saal (Universität Luzern) und Fabien Merz (ETH Zürich).