Crowdfunding für Corona-BetroffeneDie Hilfe kommt aus dem Netz
Die Corona-Krise befeuert politische Kampagnen und Crowdfunding-Projekte. Zurzeit werden alle Rekorde geschlagen.

An jenem Montagabend im März, als der Bundesrat seine Regeln ein letztes Mal verschärfte, war Markus Hohl sofort klar, was das für seinen Betrieb bedeutet: keine Buchungen, keine Anzahlungen, keine Einnahmen – und kein Lohn für ihn. Die Arbeitslosenkasse zahlt nur für seine Angestellten Kurzarbeitsentschädigung. Hohl betreibt in Bühler, Appenzell Ausserrhoden, eine kleine Reiseagentur, die Campingferien in Italien organisiert. Aber wer will in nächster Zeit nach Italien reisen?
Am nächsten Morgen setzte sich Hohl an den Computer und schrieb: «An Frau Staatssekretärin Ineichen-Fleisch: Tausende Kleinbetriebe sind von der Kurzarbeitsentschädigung ausgeschlossen, obwohl sie ALV-Beiträge zahlen.» Das war auch der Titel der Petition, die er auf der Internetplattform Campax lancierte. Bis am Abend hatten 2000 Personen unterschrieben, und Hohl dachte bei sich: «Ich bin mit meinem Problem nicht allein.» Am zweiten Tag waren es 50’000 Unterschriften, am dritten 96’000. Es war die erfolgreichste Kampagne, die in der dreijährigen Geschichte von Campax je durchgeführt wurde.
Der Schmerz ist schnell artikuliert
Die schwierigen Tage und Wochen, die auf den Lockdown folgten, befeuern politische Kampagnen und Crowdfunding-Projekte im Internet auf eine Weise, die zu normalen Zeiten undenkbar gewesen wäre. Selbst Anliegen, die sonst breite Unterstützung finden, etwa eine Petition gegen das Freihandelsabkommen Mercosur, haben nie so schnell so viele Unterschriften erhalten. «Der Schmerz ist schnell artikuliert, und er stösst heute auf grosses Verständnis», sagt Andreas Freimüller, Geschäftsführer von Campax. Die Bevölkerung spüre, dass es um die Existenz gehe.
Bis Ende März wurden bereits 128 Petitionen lanciert, die meisten haben mit der aktuellen Krise zu tun. Das sind fast so viele wie im ganzen vergangenen Jahr mit 140 Petitionen. Campax spricht ein eher linkes und progressives Publikum an, jetzt aber unterschreibt die ganze Bevölkerung. «Die Leute sind voller Sorge und wollen dazu beitragen, dass sich etwas zum Besseren wendet», sagt Freimüller.
Solidarität für Opern und Streetfood-Köchinnen
Bei der Internetplattform Wemakeit werden keine Unterschriften gesammelt, sondern Geld. Auch hier zeigt sich: Während früher vor allem Geld für eine Bühne oder ein Kochbuch gesucht wurde, appelliert heute mehr als jeder zweite Crowdfunder an die Solidarität – ein Fitnesscenter, ein Restaurant, ein Opernprojekt oder eine Streetfood-Köchin.
Die Unterstützung ist gross: Sie werden von mehr Personen unterstützt, und diese spenden mehr Geld als früher. Entsprechend schnell erreichen viele ihr Ziel oder schiessen gar darüber hinaus, wie Céline Fallet sagt, die Geschäftsführerin von Wemakeit. Viele Leute hätten noch den vollen Lohn und seien bereit, Geld für eine gute Sache zu spenden. Dafür haben es heute herkömmliche Projekte, auch Klimaprojekte, schwieriger.
«Kultur ist ein riskantes Geschäft. Die Gagen für Bands und DJs sind hoch, die Margen tief.»
Wer erhält am meisten Unterstützung? Bei Wemakeit sammeln viele Musikclubs Geld, und dies sehr erfolgreich. Sie sind in einer schwierigen Situation, sagt Max Reichen, Geschäftsleiter der Berner Bar- und Clubkommission. Kaum einer hätte Reserven anlegen können. «Kultur ist ein riskantes Geschäft. Die Gagen für Bands und DJs sind hoch, die Margen tief. Nur schon ein schlechter Abend kann ein riesiges Loch in die Kasse reissen.»
So ruft etwa das Berner Jugendkulturzentrum Gaskessel unter dem Titel «Chessu Love» zur Solidarität auf. «Wir mussten einsehen, dass es in dieser ausserordentlichen Situation nicht anders geht, und haben uns ein Herz gefasst», sagt Mediensprecherin Lena Käsermann. Mit jedem Tag, an dem der Kessel geschlossen sei, häuften sich Schulden an. Damit der Kessel auch nach dieser Zeit wieder ein vielfältiges Kulturangebot lancieren und die bisherige Gemeinschaft leben könne, seien sie auf Spenden angewiesen. «So sind wir um jede Hand froh, die etwas gibt.»
Nach der bereitwilligen Unterstützung wird die Auseinandersetzung kommen.
Bei Campax sind es heute vor allem die Vergessenen, die viele Unterschriften erhalten. Unternehmer wie Markus Hohl oder Selbstständige, die zwar arbeiten dürften, aber wegen der Krise keine Aufträge mehr bekommen. «Wenn die Leute etwas als ungerecht empfinden, unterschreiben sie», sagt Andreas Freimüller.
Die Krise hat die Schweiz aber nicht zu einem Land von Altruisten gemacht. Der grösste Treiber für eine Unterstützung ist die Angst, dass man selber oder Freunde unter die Räder kommen, wie Freimüller beobachtet. Sobald es aber darum geht, Menschen aus einem Flüchtlingscamp in die Schweiz zu holen, bröckelt die Solidarität; schliesslich hat man es selber schon schwer.
Bei Campax geht man davon aus, dass auch dann noch viele Petitionen lanciert werden, wenn der Bundesrat die strengen Vorgaben lockert. Auf die erste Phase einer gewissen Solidarität wird eine Phase der Auseinandersetzung folgen. Dann wird darüber diskutiert, ob die Richtigen von der Lockerung profitieren – und wer die Folgen der Krise bezahlen soll.
Am fünften Tag nach dem Lockdown schrieb Reiseunternehmer Markus Hohl auf Campax: «Wir wurden gehört!» Auch die Unternehmer selber erhalten nun eine Pauschale von 3320 Franken pro Monat, um sich über Wasser zu halten. Ob wegen der Petition, bleibt offen.
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