Schweizer Ärztin über Schmerzmittel«Bei Patienten, die länger als zwei Monate Opioide nehmen, steigt das Risiko»
Selbst bei leichten Verletzungen kommen die schnell süchtig machenden Mittel in der Schweiz immer öfter zum Einsatz, sagt Professorin Maria Wertli. Droht eine Krise wie in den USA?
Sie haben soeben eine neue Studie publiziert zum Opioidkonsum in der Schweiz. Wie ist die Situation?
Es gibt einen eindeutigen Trend: Die Verschreibungen von nicht opioidhaltigen Schmerzmitteln gehen eher zurück, die Abgabe von starken opiathaltigen Mitteln nimmt hingegen zu.
Weshalb?
Oft hört man das Argument, der Anstieg habe damit zu tun, dass man in der Schweiz inzwischen eine bessere Palliativmedizin mache oder Krebspatienten bezüglich Schmerzen besser betreue. Die neuen Daten zeigen nun aber ganz klar, dass es zu einer Zunahme des Gebrauchs von Opioiden kommt, selbst bei banalen, leichten Verletzungen.
«Vor Morphin hatte man Angst. Das ist ein typisches europäisches Phänomen, das es in den USA nicht gab.»
Welche fatalen Folgen ein übermässiger Opioidkonsum haben kann, zeigt die Krise in den USA. Warum wird es in der Schweiz trotzdem noch immer so freizügig verschrieben?
Um das zu verstehen, muss man zurückblicken. In Europa herrschte in den 90er-Jahren eine eigentliche Morphin-Phobie. Vor diesem Mittel hatte man Angst. Das ist ein typisches europäisches Phänomen, das es in den USA nicht gab.
Was hat diese Morphin-Phobie bewirkt?
Sie führte zu einer deutlichen Unterversorgung von Schmerzpatientinnen und -patienten. Ich erinnere mich gut, als ich als junge Ärztin anfing und Morphinrezepte an Krebspatienten ausstellte; sie wollten diese nicht. Sie hatten Angst davor. Und dann kamen Anfang der 2000er-Jahre die neuen Substanzen wie Oxycodon.
Was hat dies verändert?
Vom Image her half es, dass es nicht Morphin hiess. Zudem wirkte es gut, und es gab tatsächlich zu der Zeit einen Nachholbedarf an adäquaten Schmerztherapien. Daher begann man, Kampagnen zu lancieren, unter anderem mit Studien, die von den Pharmafirmen mitgetragen wurden. Deshalb wurde es vermehrt verschrieben.
Welche Auswirkung hatte das in der Schweiz?
Der Schmerz wurde zum fünften Vitalzeichen im Spital. Das war neu. Man musste sich also als Ärztin oder Arzt routinemässig angewöhnen, auch das Schmerzniveau zu beurteilen. Das führte dazu, dass man beispielsweise auf Notfallstationen in der Schweiz bei akuten Schmerzen Opioide vermehrt einsetzte. Das war ein Paradigmenwechsel.
Wie genau?
Es gab eine Neuorientierung in der Ausbildung der jungen Ärztinnen und Ärzte. Von der zurückhaltenden Schmerzbehandlung hin zum liberaleren Gebrauch starker Mittel. Die jungen Ärztinnen und Ärzte von heute kennen die Zurückhaltung von früher nicht mehr. Sie sind mit Oxycodon aufgewachsen.
Diese Mittel können schnell abhängig machen. Die Patientin Beatrice S., über die wir geschrieben haben, sagt, die starken Mittel hätten gegen ihre extremen Schmerzen immer weniger genützt.
Die Medizin hat zu spät realisiert, dass die starken Opioide bei chronischen Schmerzen und bei Verletzungen des Bewegungsapparates anderen Schmerzmedikamenten nicht überlegen sind. Diese Erkenntnisse verdanken wir wichtigen Studien. Eine eindrückliche Studie in Notfallstationen in den USA zeigte, dass bei Rückenschmerzen die zusätzliche Gabe von starken Opioiden zu Antirheumatika keinen zusätzlichen Effekt brachte, aber deutlich mehr Nebenwirkungen hatte. Man hat also die Wirksamkeit von Opioiden überschätzt.
Und trotzdem wird es weiter freizügig verschrieben. Was muss in der Schweiz geschehen, um das zu ändern?
Alarmismus ist nicht angebracht, die Situation hier ist nicht vergleichbar mit den USA. Aber unsere Studie zeigt klar, dass die Hemmschwelle, starke Opioide zu verschreiben, deutlich tiefer geworden ist, auch bei medizinischen Banalitäten. Und das ist keine gute Entwicklung. Es ist in der Schweiz nötig, dass dieses Problem in der Ausbildung der Mediziner und Medizinerinnen angegangen wird. Wenn man ein starkes Opioid verschreiben muss – und das muss ich manchmal auch –, braucht es einen klaren Plan, wie es wieder gestoppt wird. Es darf nicht sein, dass man beim Spitalaustritt planlos einfach eine ganze Packung mitgibt. Denn mit jedem Patienten, den man länger als zwei oder drei Monate mit starken Opioiden behandelt, riskiert man, dass er abhängig wird.
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