Abstimmungskampf zum KlimagesetzDie Halbwahrheiten der SVP
Die Partei warnt vor exorbitanten Energiekosten für Konsumenten und Wirtschaft, falls die Schweizer Bevölkerung das Klimaschutzgesetz annehmen wird. Wir haben die Behauptungen geprüft.
Die Schweizer Haushalte haben Post erhalten: Die SVP hat dieser Tage ihre Abstimmungszeitung zum Klimaschutzgesetz verschickt. Eine ihrer Botschaften: In Zukunft könnten sich nur noch Reiche das Autofahren, Ferienreisen und eine warme Wohnung leisten. Die SVP gibt der Vorlage ein Preisschild. Sie will so die Bevölkerung davon überzeugen, das Klimaschutzgesetz am 18. Juni abzulehnen.
Die Vorlage gibt den gesetzlichen Rahmen vor, damit die Schweiz bis 2050 klimaneutral wird. Das Gesetz schreibt aber nicht vor, auf welchem Weg genau die Schweiz ihr Klimaziel erreichen soll. Die Folgekosten können daher nur aufgrund verschiedener Szenarien abgeschätzt werden. Stimmt das, was die SVP behauptet? Wir haben zentrale Punkte aus ihrem Argumentarium geprüft.
«Die ETH hat berechnet, dass sich die Energiekosten verdreifachen werden: auf 9600 Franken pro Person und Jahr.»
Die SVP bezieht sich auf eine einzige Studie von Andreas Züttel, Leiter des gemeinsamen Energieforschungslabors des Eidgenössischen Materialforschungsinstituts Empa und der ETH Lausanne. Zusammen mit seinem Team zeigt er drei verschiedene Wege zu einer CO₂-neutralen Energieversorgung auf.
Die SVP stützt sich dabei in ihrem Argumentarium auf das teuerste Szenario ab: Bei einer Annahme des Klimaschutzgesetzes ergäben sich laut SVP Mehrkosten von bis zu 6600 Franken pro Kopf und Jahr. Die SVP geht davon aus, dass sich heute die Energiekosten auf durchschnittliche 3000 Franken pro Kopf belaufen. Der Grund für diese Kostenzunahme: Treib- und Brennstoffe für Verkehr (inklusive Fliegen) und Heizen werden in diesem Szenario vollständig durch synthetische Kohlenwasserstoffe wie etwa synthetisches Methan ersetzt. Diese werden chemisch durch die Verbindung von Wasserstoff und CO₂ – gewonnen aus der Luft – produziert. Wasserstoff wiederum entsteht elektrisch durch Elektrolyse, die Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff spaltet. Dieses Szenario verlangt eine enorme Fläche an Fotovoltaik und eine teure Infrastruktur, um die grossen Mengen Solarstrom für die Elektrolyse bereitzustellen.
Dieses Szenario ist deshalb keine Option in den Energieperspektiven 2050+ des Bundesamts für Energie.
Fehlannahme einer autarken Schweiz
Das grundlegende Problem der Studie von Züttel ist aber, dass der Autor in all seinen Szenarien von einer Schweiz ausgeht, deren Energieversorgung vollkommen autark ist. Es gibt also keinen Energiehandel mit dem Ausland. Im Szenario, das die SVP in ihrem Argumentarium verwendet, würden deshalb die synthetischen Treib- und Brennstoffe vollständig in der Schweiz produziert. «Es gibt Orte auf dieser Welt, wo man diese Energieträger viel billiger produzieren kann. Und das werden viel mehr Staaten sein, als es heute Produzenten fossiler Energie gibt», sagt Peter Richner, stellvertretender Direktor der Empa.
So hat das Bundesamt für Energie zwar auch synthetische Treibstoffe in seinen Perspektiven vorgesehen, die aber im Gegensatz zu Züttel zum grössten Teil importiert werden sollen. «Die Analyse von Züttel zeigt auf, dass vollständige energetische Autarkie nur zu exorbitant hohen Kosten führen würde», sagt Richner. Und die Umwelt würde zudem etwa durch einen enormen Ausbau der Fotovoltaik massiv belastet. «Das Klimaschutzgesetz schreibt nichts von Autarkie. Die Schweiz ist seit der Industrialisierung energetisch nicht mehr autark», sagt Peter Richner.
«Die Analyse von Züttel zeigt auf, dass vollständige energetische Autarkie nur zu exorbitant hohen Kosten führen würde».
Für den Empa-Forscher bestätigt Züttels Studie, dass die aktuelle Strategie der Schweiz eben der richtige Weg ist: ein Mix aus Energieeffizienz, dem Ausbau der erneuerbaren Energien, globalem Handel mit erneuerbarer Energie und einer Integration ins europäische Stromnetz. Von diesem Mix ist die Schweiz aber noch weit entfernt, unter anderem, weil ein Stromabkommen mit der EU nach wie vor fehlt, die künftige Einbindung in den europäischen Strombinnenmarkt also noch unsicher ist.
Eindimensionale Perspektive
Diesen Mix jedenfalls hat Züttel in seiner Studie vollständig ausgeblendet. Er berücksichtigt wichtige Aspekte des zukünftigen Energiesystems nicht, wie zum Beispiel ein optimiertes Energiemanagement, eine zunehmende Energieeffizienz und energetische Einsparungen. Das sind alles Faktoren, die in den Energieperspektiven 2050+ vorgesehen sind – deren Umsetzung allerdings eine grosse Herausforderung sein wird. «Sowohl eine Wärmepumpe als auch ein Elektromotor sind rund dreimal effizienter als ein Heizkessel oder ein Verbrennungsmotor», sagt Peter Richner. Die benötigte Gesamtenergie wird deshalb allein durch die Elektrifizierung deutlich abnehmen – und damit auch massiv die Abhängigkeit vom Ausland. Allerdings wird die Nachfrage nach Strom steigen. Die Energiestudie der Akademie der Naturwissenschaften geht davon aus, dass sich durch die Elektrifizierung die Abhängigkeit um 70 Prozent reduziert. Ohne Import werde es in Zukunft nicht gehen, aber es gäbe kostengünstige Wege, ihn deutlich zu verringern.
Mehr Effizienz, weniger Kosten
Wie stark unsere Volkswirtschaft durch die Energiewende belastet wird, ist letztlich nur durch Modellrechnungen abzuschätzen. Entsprechend unterschiedlich fallen sie aus – je nach Annahme, etwa wie stark die Fotovoltaik ausgebaut wird und wie viel Import wir zulassen wollen. Jüngere Simulationen des Climate Policy Lab der ETH Zürich verwenden aktuelle Marktdaten des Stromhandels.
Die Modelle gehen davon aus, dass die Schweiz bis 2050 klimaneutral ist, nach dem Ausstieg aus der Nuklearenergie etwa 45 Terawattstunden Solarstrom produziert und über das ganze Jahr gerechnet etwas mehr Strom importiert als exportiert. Auch die Kosten für die notwendigen Stromspeicher und die Produktion von synthetischen Treibstoffen, um nukleare und fossile Energie zu ersetzen, sind einkalkuliert.
«Klimaschutz für die Wirtschaft und die Umwelt ist eher eine Win-Win-Situation als ein Zielkonflikt.»
Trotz der hohen Investitionskosten für den Ausbau der Energieversorgung (ein grosser Teil fällt ohnehin an, weil die Infrastruktur modernisiert werden muss) ergäben sich unter dem Strich bis 2050 jährliche Einsparungen von rund 2 Milliarden Franken oder rund 200 Franken pro Person – bei einer Bevölkerung von 10 Millionen Menschen. «Klimaschutz für die Wirtschaft und die Umwelt ist eher eine Win-Win-Situation als ein Zielkonflikt», sagt Anthony Patt, ETH-Professor für Klimaschutz und -anpassung.
Das hat unter anderem damit zu tun, dass die Elektrifizierung zwar zu einer deutlich höheren Stromnachfrage führt, der Gesamtenergieverbrauch durch den effizienteren Ersatz der fossilen Energie aber massiv sinkt. Damit werden die Gesamtkosten verringert. Zu diesem Schluss kommt auch die Empa-Studie, die im Auftrag des Verbands Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen VSE Ende 2022 publiziert wurde. Dort heisst es: «Ein umgebautes Energiesystem ist aufgrund der erhöhten Effizienz günstiger als der Status quo.» Je nach Szenario reduzieren sich die Systemkosten um 1 bis 5 Milliarden Franken.
Selbst wenn Elektroautos mehr gefahren würden, weil die Besitzer nun ein CO₂-freies Fahrzeug lenkten, bleibe gegenüber dem Verbrennungsmotor immer noch ein grosser Effizienzgewinn, sagt Christian Schaffner, Direktor des Energy Science Center der ETH Zürich. Und das wirke sich auf die Energiekosten für den Einzelnen aus. Vorausgesetzt, die Stromkosten steigen nicht exorbitant.
Schaffner leitet eine Expertengruppe verschiedener Fachrichtungen, deren Ziel es ist, das Wissen in Sachen Energie in der Schweiz zu vertiefen und den wissenschaftlichen Konsens stets zu aktualisieren. Der Energieexperte ist vorsichtig. «Grundsätzlich sind absolute Kostenrechnungen zum heutigen Zeitpunkt heikel», sagt er. Klar sei aber, dass die zusätzlichen Investitionen in den Umbau des Energiesystems direkten Nutzen bringen würden: etwa lokal bessere Luft, Innovationen, neue Arbeitsplätze und natürlich die Reduktion der Schäden durch die klimarelevanten Emissionen.
Keinen Zweifel gebe es auch bei der Fotovoltaik, deren Ausbau inklusive Speicher kostengünstig sei. Der zusätzliche Strombedarf durch die Elektrifizierung sei zudem nicht so hoch, wie vielleicht erwartet werde. Es gehe nicht um Grössenordnungen. «40 bis 45 Prozent mehr Strombedarf ist verkraftbar, aber natürlich auch sehr herausfordernd», sagt Schaffner. Es gibt aber laut Schaffner offene Fragen: zum Beispiel die künftige Rolle des Wasserstoffs in der Schweiz oder der Kernkraft.
Schaffner beschwört deshalb die Transparenz. Daran mangelt es bei den Argumenten der SVP, wie die nächste Behauptung zeigt:
«Der realitätsfremde Umbau der Energieversorgung verursacht Kosten von mindestens 387 Milliarden Franken.»
Diese Zahl stammt aus einer Studie, welche die Schweizerische Bankiervereinigung 2021 publiziert hat. Hier geht es aber nicht um direkte Energiekosten, sondern um Investitionen in den Aus- und Umbau in eine emissionsfreie Energieinfrastruktur. Die 387 Milliarden Franken fallen dabei nicht sofort an, sondern über die nächsten 30 Jahre verteilt, also im Durchschnitt 12,9 Milliarden Franken pro Jahr oder 1290 Franken pro Kopf.
Die Studie hat untersucht, ob der Finanzmarkt diese Investitionen aufbringen kann. Die Antwort lautet: ja. Wichtig ist dabei: 58 Prozent sind Investitionen, die sowieso anfallen werden – allein ein Drittel für den Ersatz von Fahrzeugen. Die müssen sowieso ersetzt werden und kosten nicht zusätzlich. Die Transformation ist laut Studie zudem auch eine «grosse Chance» für die Schweizer Volkswirtschaft, «da neue Märkte entstehen, in denen unser Land zu den führenden Anbietern zählen kann». Für das Gewerbe bedeutet das neue Einkünfte, für den Finanzplatz neue Optionen, Geld zu verdienen.
Auch beim nächsten Argument differenziert die SVP nicht:
«Insgesamt werden bei einer stärkeren Elektrifizierung des Energiesystems bis zu 84 Milliarden Franken für den Netzausbau fällig.»
Diese Zahl stammt aus einer Studie des Bundesamts für Energie, die untersucht hat, welche Folgen die Verbreitung von Elektromobilität, Wärmepumpen und Fotovoltaik auf die Verteilnetze haben wird. Was die SVP nicht sagt: Von den 84 Milliarden Franken fallen 45 Milliarden bis 2050 ohnehin an, dies für den Erhalt und den Ausbau des Stromnetzes; die stärkere Elektrifizierung des Energiesystems kostet also laut Studie zusätzlich 39 Milliarden Franken, und zwar maximal, das macht pro Kopf und Jahr 130 Franken.
Die Studie rechnet in ihrem Basisszenario allerdings mit tieferen Zusatzkosten von 30 Milliarden Franken. Die Netznutzungstarife, welche die Stromkonsumenten zahlen müssen, steigen in diesem Szenario um 63 Prozent. Da sie durchschnittlich etwa die Hälfte des Strompreises ausmachen, würde der Strom um etwa 30 Prozent teurer.
Wie gross die Zusatzkosten tatsächlich sein werden, hängt allerdings von verschiedenen Faktoren ab. Mit intelligenten Netztechnologien liesse sich der Investitionsbedarf um rund ein Viertel senken, wie die Studie festhält. Zudem arbeitet das Parlament derzeit an kostensenkenden Massnahmen, etwa an der Möglichkeit, dynamische Tarife einzuführen, was Anreiz gäbe, den Stromverbrauch besser über den Tag zu verteilen, und somit die Notwendigkeit eines starken Netzausbaus verkleinern würde.
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