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Porträt der Nifff-Chefin
Die Frau, die über den Horror herrscht

Anaïs Emery, gebürtige Neuenburgerin, am Nifff 2017.
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Wenn es am Neuchâtel International Fantastic Film Festival (Nifff) ein Herzstück gibt, dann wohl die Mitternachtsvorstellung, in der immer irgendein Horrorthriller über Hinterwäldler im Mittleren Westen läuft. Das Publikum ist schon ganz aufgeregt angesichts des zu erwartenden Grauens, und in dieser Stimmung kommt Anaïs Emery auf die Bühne.

Sie sagt ein paar Worte zum Spektakel, meistens sind es Adjektive wie «geschmacklos» oder «debil», und grinst dazu. Die Zuschauer freuen sich und klatschen extra viel zu laut, als wollten sie sagen: Du bist doch eine von uns, wieso stehst du da oben?

Hardcore und Hipster

Jetzt wäre wieder die Zeit, in der die 42-jährige Festivaldirektorin eine der Bühnen in einem speckigen Kino in Neuenburg betreten hätte. Aber die 20. Nifff-Ausgabe, ihre letzte, fällt wegen Covid-19 aus. Emery wird neue Leiterin des Festivals Giff in Genf, das stärker auf neuere digitale Formen wie Virtual Reality ausgerichtet ist.

Das Nifff hat Anaïs Emery mitbegründet, ab 2006 war sie dessen künstlerische Leiterin. Seither hat sich die Besucherzahl von 13’000 auf 48’000 mehr als verdreifacht. Es gab Ausgaben, an denen war die Hälfte der Gäste jünger als 30 Jahre, erzählt Emery im Garten des Luxushotels Beau Rivage. Sie trägt Sonnenbrille; der einzige Rockstar von Neuenburg.

Das Publikum am Nifff kann mal als speziell bezeichnen, aber aussergewöhnlich ist daran eigentlich nur die perfekte Mischung aus Hardcore-Fans mit Kultfilm-T-Shirts, Genrekino-Hipstern und Stammgästen aus der Stadt. «Hyper touchant», sagt Anaïs Emery, wenn sie über ihr Publikum spricht. Einen vergleichbaren Mix gebe es in der Schweiz sonst nicht.

Die Mischung machts: Besucher am Nifff 2008.

Geboren ist Emery in Neuenburg, sie besuchte die Schauspielschule in Lausanne, studierte Filmgeschichte und Soziologie. Aber nicht allzu lange, es war mehr so, dass die Neuenburger irgendwann begonnen haben, bei Anaïs Emery in die Schule zu gehen. Was sie kennen lernten, war die hohe Kunst des niederen Kitzels.

Noch heute müsse sie Leute überzeugen, dass Horror und Fantasy nicht einfach dazu da seien, die Menschen im Saal zu verängstigen. Genauso gut könne man die Fantastik als die Form des Imaginären, des Traums bezeichnen. Einem 18-Jährigen von heute komme diese Diskussion ohnehin völlig verschnarcht vor, er bewege sich ja praktisch nur noch durch fantastische Welten, voll von Monstern und Übermenschlichem.

Dass dieses Jahr der koreanische Thriller «Parasite», der mit Horrorelementen spielt, den Oscar für den Besten Film gewonnen hat, hätten auch nicht alle erwartet. «Heute hat man das Gefühl, dass 99 Prozent der Produktion weltweit aus Genrefilmen besteht.» Was wir gerade erleben, sagt Emery, sei eine Demokratisierung einer Ästhetik, die in erster Linie vom guten Handwerk lebe, von Spezialeffekte-Machern, Drehbuchschreibern, Kunstblutherstellern.

Aber ja, da gebe es diese «schmutzige Seite». Manchmal tue es weh, müsse man wegschauen, und das ist ja auch der Reiz: Gucken, ob man es aushält. «Es bedeutet, dass man Grenzen hat, die man nicht überschritten sehen will. Und das heisst nicht anderes, als dass man im Besitz einer Moral ist.»

«Es geschieht oft, dass mir Dinge erklärt werden, die ich schon weiss»

Anaïs Emery

Am Nifff von Anaïs Emery wurde der Trash immer besonders gut gepflegt. Die Retrospektiven, etwa zum asiatischen Extremkino, trugen dazu bei, dass Stars wie die Regisseure David Cronenberg oder Bong Joon-ho nach Neuenburg reisten und über ihre Lieblingswerke redeten. John Carpenter gab ein unvergessenes Konzert mit seiner Soundtrack-Band, «Game of Thrones»-Autor George R. R. Martin kam und zeigte den Stinkefinger, der Japaner Takashi Miike brachte seinen ungefähr 100. Spielfilm über einen unsterblichen Samurai mit.

Emery hat früh angefangen, auch «noblere» Sachen zu programmieren. Nicht immer nur Axtmörder und Kannibalen, sondern auch mal einen leisen Geisterfilm. «Das wurde mir als Schwäche ausgelegt, weil ich ein Mädchen war.» Unter den Fans in Neuenburg ging plötzlich das Phantom der Feminisierung um.

George R. R. Martin besuchte 2014 das Nifff.

Im Bereich der Fantasy-Festivals sei es nie einfach gewesen, eine Frau zu sein, ernst genommen zu werden, sagt Emery. Noch heute würden ihr Leute aus der Filmbranche grundlegende Zusammenhänge erläutern. «Es geschieht oft, dass mir Dinge erklärt werden, die ich schon weiss.»

Die kuratorische Arbeit ist derweil nicht einfacher geworden, die grossen Festivals haben längst angefangen, das Genrekino zu pushen. Und in der Menge der Produktionen muss man unterscheiden zwischen denjenigen, die virtuos Versatzstücke aus dem Genre verwenden, und jenen, die sich nur in einer Pose gefallen; man muss sich fragen, ob ein Zombiemassaker wirklich eine kluge Sozialkritik darstellt oder ob die Intellektualisierung doch nur von der miserablen Qualität ablenken will.

20 Jahre fantastisches Kino: Anaïs Emery wird neue Leiterin des Giff in Genf.

Heute gibt es fantastische Bildwelten im Mainstream wie in nobilitierten Festivalfilmen, aber trotzdem bleibe die Industrie für Genrefilme eine spezialisierte Nische; in der Schweiz gebe es nicht einmal das. Anaïs Emery hat sich im Schweizer Film immer wieder auf die Suche nach «le fantastique» gemacht. Gefunden hat sie nie besonders viel. «Wenn es in der Schweiz eine Tradition gibt, dann besteht sie darin, dass wir keinerlei Vertrauen in unsere Vorstellungskraft haben.»

Heimat Horror

Am Nifff gibt es dafür den schönen Brauch, dass jeder programmierte Film sein eigenes Subgenre zugeteilt bekommt. Da gibt es die «Punching Sing Along Dramedy» oder das «Jaw Breaking Remake». Zum 20. Jubiläum findet das Festival als Streaming-Version statt, und ein Film läuft dort unter der Rubrik «Heimat Horror».

Auch Anaïs Emery hat dem Grusel am Nifff ein Zuhause gegeben. Sie hat es mit solcher Liebe getan, dass man sich manchmal nirgends so wohl fühlte wie in einem Neuenburger Kino um Mitternacht, wo sich alle bereit machten für ein absolut abseitiges Vergnügen.