Frauenwahlrecht in EuropaDie erste Frauenwahl
65 Jahre vor den Schweizerinnen konnten die Frauen Finnlands erstmals bei den Parlamentswahlen mitstimmen und kandidieren. Wie gelang es dem Land im hohen Norden, zum Vorbild der internationalen Frauenbewegung zu werden?
«Die Behauptung der Philister aller Länder, dass die Frauen kein Interesse an der Politik haben, dass sie das Wahlrecht nicht wollen und nicht benutzen werden, ist in Finnland glänzend Lügen gestraft worden.» Begeistert berichtete die deutsche Frauenzeitung «Die Gleichheit» über die Parlamentswahlen vom 15./16. März 1907 in Finnland.
Nach Neuseeland und Australien war Finnland das dritte Land der Welt, wo Frauen wählen durften – vor allem aber war es das allererste, wo sie sich auch zur Wahl stellen konnten. Von den 62 Frauen, die kandidiert hatten, schafften 19 den Sprung ins Parlament, das 200 Sitze zu vergeben hatte. Die Wahlbeteiligung lag bei 70,7 Prozent. Über 60 Prozent aller Stimmen waren von Frauen abgegeben worden. Die gewählten Frauen waren grossmehrheitlich unverheiratet und kinderlos, ihr Durchschnittsalter lag bei 39 Jahren.
Am 25. Mai 1907 zogen sie neben 181 Männern ins Parlament – die Eduskunta – ein. Die meisten Parlamentarierinnen gehörten der sozialdemokratischen Partei an, die mit 80 Sitzen auch die stärkste Fraktion stellte. Die Sozialdemokratinnen hatten Berufe wie Lehrerin, Näherin, Wäscherin, Dienstmädchen oder Weberin. Überwiegend Lehrerinnen waren die Parlamentarierinnen der bürgerlich-konservativen Finnischen Partei, die 59 Parlamentssitze holte. Vier von sechs Fraktionen hatten Frauen in ihren Reihen.
Miina Sillanpää – vom Dienstmädchen zur Ministerin
Eine wichtige Exponentin der konservativen Frauenbewegung war Alexandra Gripenberg (1857–1913). Die Tochter einer Adelsfamilie, akkurat erzogen und weit gereist, war eine Feministin mit Standesdünkel. 1907 mokierte sie sich über ihre Parlamentskolleginnen: «Es gibt nicht nur ungebildete Frauen, sondern auch ein Dienstmädchen, eine Wäscherin und andere Plebejer.» Die Aktivistin und Schriftstellerin hatte sich die Gleichstellung der Geschlechter gewünscht, aber nicht die der sozialen Klassen. Alexandra Gripenberg war Vorsitzende des finnischen Frauenvereins und Vorstand der internationalen Frauenunion.
Bekannter und bedeutender war eine andere finnische Parlamentarierin der ersten Stunde: Miina Sillanpää (1866–1952), Sozialdemokratin aus einer Kleinbauernfamilie. Ab 12 Jahren arbeitete sie in einer Baumwollspinnerei, mit 18 Jahren bekam sie eine Anstellung als Dienstmädchen. Als junge Frau begann sie zu schreiben und sich für die Rechte von Hausangestellten zu engagieren. Ausserdem setzte sie sich für die Rechte lediger Mütter ein, was damals ein Tabuthema war, sowie für alte und benachteiligte Menschen.
Miina Sillanpää sollte eine bemerkenswerte Karriere machen: Vorsitzende der sozialdemokratischen Frauenvereinigung, Mitglied im Parteivorstand der Sozialdemokraten, Abgeordnete im Stadtparlament von Helsinki sowie von 1907 bis 1947 Abgeordnete im nationalen Parlament. Zudem leitete sie 1926/27 das Sozialministerium – als erste Ministerin der Republik Finnland. Miina Sillanpää gilt als eine der Mütter des finnischen Wohlfahrtsstaats. Sie ist als Brückenbauerin und Gerechtigkeitskämpferin in Erinnerung geblieben.
Mit der Parlamentswahl von 1907 war Finnland zum Vorbild der internationalen Frauenbewegung geworden. Ausgerechnet ein kleines Land an der nördlichen Peripherie Europas, agrarisch und ständisch geprägt, zudem nicht einmal ein eigenständiger Staat, setzte mit der Einführung des aktiven und passiven Frauenwahlrechts einen Meilenstein der Demokratie- und Parlamentsgeschichte. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte Finnland das damals modernste Wahlrecht. Diese Radikalreform war das Resultat des gemeinsamen Kampfes von Arbeiter- und Frauenbewegung sowie der Emanzipation Finnlands von der russischen Herrschaft.
Seit 1809 war Finnland Teil des Russischen Reiches, aber mit einer weitgehenden Autonomie ausgestattet gewesen. Als Russlands Zar und Grossfürst von Finnland, Nikolaus II., 1899 Finnland das Gesetzgebungsrecht entzog, Pressezensur einführte und das Land zu einer russischen Provinz degradierte, reagierte die finnische Bevölkerung mit Protesten. Der Widerstand gegen den Zaren verband sich mit der Forderung nach politischen und sozialen Reformen. Die Finninnen und Finnen verlangten unter anderem das Wahlrecht für alle.
«Das war ein nationaler Kampf ums Überleben. Das hat Männer und Frauen vereint im Kampf gegen die Russifizierungsmassnahmen.»
Die Russische Revolution von 1905 löste auch in Finnland heftige Unruhen aus. Der Gouverneur des Zaren in Helsinki war bereits im Jahr zuvor bei einem Attentat ums Leben gekommen. Landesweit gab es Massenproteste und Generalstreiks. «Das war ein nationaler Kampf ums Überleben, um die finnische Sprache, um die Identität, um die Familie, um alles, was Finnland für die Finnen bedeutet hat», schreibt die finnische Historikerin Marja-Liisa Hentilä in einem Aufsatz über ihr Land zu Beginn des 20. Jahrhunderts. «Das hat die Geschlechter, Männer und Frauen, vereint im Kampf gegen die Russifizierungsmassnahmen des Zaren.»
Die Arbeitervereine Finnlands hatten sich längst zu Massenorganisationen der nationalen Bewegung entwickelt. Frauen spielten eine grosse Rolle in der Arbeiterbewegung und der sozialdemokratischen Partei, indem sie zentrale Posten besetzten. Ausserdem war die seit Jahrzehnten international vernetzte Frauenbewegung Finnlands inzwischen zu einer einflussreichen politischen Kraft avanciert.
Gewichtigen Einfluss auf Finnlands Frauen hatten deutsche Sozialdemokraten, insbesondere August Bebel, einer der Begründer der SPD mit vielen Jahren des Exils in Zürich, wo er auch begraben ist, sowie Clara Zetkin, Frauenrechtlerin, Politikerin und Herausgeberin der Frauenzeitung «Die Gleichheit», in der auch finnische Aktivistinnen wie Miina Sillanpää Artikel veröffentlichten. Clara Zetkin und August Bebel waren der Überzeugung, dass erst die klassenlose sozialistische Gesellschaft und die Befreiung vom Kapitalismus die Gleichberechtigung von Frau und Mann herbeiführen würde. Die Frauenfrage war also Teil der Klassenfrage.
«Das Wahlrecht war ein Streitpunkt zwischen proletarischer und bürgerlicher Frauenbewegung», schreibt der Historiker Klaus Reichel in einem Sammelband von 2007 zum 100. Jahrestag der ersten Frauenwahl in Europa. «Es gab weniger eine Konfrontation zwischen stimmberechtigten Männern und entmündigten Frauen als vielmehr zwischen den privilegierten Schichten und der politisch rechtlosen Bevölkerung.» Eine gemeinsame Basis fanden die Finninnen und Finnen im Kampf gegen die Bevormundung durch Russland.
1906 – aufgrund der zunehmend explosiven Lage in Finnland – gab Zar Nikolaus II. den nationalistischen und sozialistischen Bewegungen nach. Der russische Zar hatte ohnehin genügend andere Probleme in seinem Reich. Mit der Rückgabe der Autonomie an Finnland waren weitreichende politische Reformen verbunden. Von überragender Bedeutung war die Einführung eines neuen Wahlrechts- und Parlamentssystems. Zuvor hatte Finnland einen Vierständelandtag, in dem nur Adel, Kirche, Bürger und Freibauern vertreten waren. Das bedeutete, dass lediglich 15 Prozent der männlichen Bevölkerung das Wahlrecht auch ausüben durften.
Ersetzt wurde das Ständesystem durch ein Einkammer-Parlament, das in allgemeinen Wahlen bestimmt werden sollte. Alle finnischen Staatsbürgerinnen und -bürger ab 24 Jahren durften nun wählen. Am 20. Juli 1906 bestätigte der Zar die neue Landtagsverordnung, die den Frauen Finnlands den Einstieg in die Politik ebnete.
Amtierende Regierung mit Frauenmehrheit
Finnland, das 1917 seine Unabhängigkeit erlangte, ist ein gutes Land für Frauen, die sich in der Politik engagieren wollen. Im ersten Parlament von 1907 waren die Frauen mit knapp 10 Prozent vertreten. Inzwischen bewegt sich der Frauenanteil im Parlament auf die 50-Prozent-Marke zu. Bei den letzten Wahlen von 2019 errangen die Frauen 93 Sitze, was einem Frauenanteil von 47 Prozent entspricht.
In der aktuellen Regierung stellen sie sogar eine Mehrheit. Von 18 Ministerien sind 11 mit Frauen an der Spitze besetzt. Regierungschefin ist Sanna Marin – und in diesem Amt auch die jüngste der Welt. Die 35-jährige Sozialdemokratin leitet eine Fünf-Parteien-Koalition. Und es sind Frauen, die alle Koalitionsparteien anführen. In der finnischen Politik haben vor allem Frauen das Sagen. Finnland ist erneut ein Vorbild der internationalen Frauenbewegung.
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