Die EM-Bilanz von Gerardo Seoane«Yamal wird weltweit ein Top-Top-Topspieler»
Als Trainer ist Gerardo Seoane bei diesem Turnier besonders angetan von Spanien, er erklärt die Chancen von England im Final und würdigt die Arbeit von Murat Yakin.
Gerardo Seoane braucht nicht lange, um seinen Tipp für den Final am Sonntagabend in Berlin abzugeben. Das Herz des 45-jährigen Schweizers bei Borussia Mönchengladbach schlägt für Spanien, das Land seiner Eltern. Er staunt über das Tor des 17-jährigen Lamine Yamal im Halbfinal gegen Frankreich. Und fragt sich, wie frisch die Engländer mental und körperlich noch sind.
Beginnen wir mit der einfachsten Frage: Wer wird Europameister?
Spanien!
Welche Überraschung.
Für mich hat vom Gefühl her festgestanden: Europameister wird der Gewinner des Viertelfinals Spanien - Deutschland. Die Tipps und Analysen von uns Trainern entstehen rein aus dem, was wir auf dem Platz sehen. Zum Glück des Fussballs gibt es Sachen, die sich nicht kontrollieren lassen: Das ist die individuelle Qualität eines Spielers. Oder eine einzige Situation, die ein Spiel komplett verändern kann.
Aber rein fussballerisch …
… sind Spanien und Deutschland, defensiv wie offensiv, die beiden komplettesten Mannschaften des Turniers.
Was gefällt Ihnen an Spanien so besonders?
Diese Mannschaft ist in allen Spielphasen sehr dominant und will immer bestimmen, was passiert. Das heisst: Sie spekuliert nicht, sie reagiert nicht, sondern agiert. Sie hat nach Ballverlust ein sensationelles Gegenpressing. Sie stört den Gegner früh und lässt ihn sich nicht entfalten. Technisch und individualtaktisch ist sie so gut, dass sie viele Situationen lösen kann. Das alles gilt auch für Deutschland.
Wie viel hat das mit Luis de la Fuente zu tun? Wie viel mutiger ist er als sein Vorgänger Luis Enrique?
Er arbeitet seit über zehn Jahren beim Verband, er weiss, welcher Fussball verlangt wird. Die meisten Spieler kennt er schon lange. Er verfügt über eine emotionale Ausgeglichenheit. Er hat einen guten Mix: Wie viel soll er fordern? Wie viel kritisieren? Wie viel loben? Und ja, er ist ein mutiger Trainer, weil er junge Spieler einsetzt.
Wenn die so gut sind …
… das kann man jetzt leicht sagen. Mutig ist de la Fuente trotzdem.
Wo kommen diese Talente immer wieder her? Williams, Pedri, Yamal, nicht zu vergessen der Überflieger Gavi, der jetzt wegen eines Kreuzbandrisses fehlt.
In Spanien ist Fussball Sport Nummer 1. Die Kinder wollen Fussball spielen. Und in den grossen Nachwuchsabteilungen wird sehr gut gearbeitet. Sei es bei Real, Atlético, Barcelona, Sevilla, Bilbao, Real Sociedad.
Lamine Yamal ist seit diesem Samstag 17 Jahre alt. Gibt es irgendetwas, das bei ihm gegen eine richtig grosse Karriere spricht?
Im Moment überhaupt nicht. Normalerweise sind im Internat von Barcelona keine Spieler aus der Stadt oder Umgebung. Bei ihm aber hat die Familie sehr früh entschieden, dass er ins Internat geht, obwohl er selbst aus der Region stammt. Da ist er sehr gut behütet. Dazu ist er mit seiner Spielweise am Flügel bei einer Mannschaft, die immer viel Ballbesitz hat, am richtigen Ort. Entscheidend ist immer die Frage: Was ist mit Verletzungen? Aber bei ihm sieht alles danach aus, dass er weltweit einer der Top-Top-Topspieler wird.
Wie reagieren Sie als Zuschauer bei einem Tor, wie er es gegen Frankreich erzielte?
Ich staune natürlich, dass ein so junger Spieler in einer solchen Situation so etwas macht. Und mir kommen einige Spieler in den Sinn, die dazu fähig gewesen sind: die Messis, Maradonas, Del Pieros, Baggios, all die, die den Ball praktisch aus dem Stand in die lange Ecke geschlenzt haben. Das sind einfach Spieler, die dank ihrer Intuition und Genialität dazu fähig sind.
Und vergessen Sie Shaqiri nicht …
… Xherdan gehört zu den Spielern, die einen Haken schlagen und gar nicht mehr schauen müssen, wo die lange Ecke ist und der Goalie steht. Sie haben den Mut, einfach zu schiessen.
Was muss England machen, um gegen Spanien zu bestehen?
Die Engländer haben in der ersten Halbzeit des Halbfinals gegen die Niederlande gezeigt, dass sie auch anders auftreten können: dass sie fähig sind, aktiver zu verteidigen, den Gegner höher anzulaufen und vor Probleme zu stellen. Wenn sie Dynamik auf den Platz bringen, initiativ sind und auch hinten ein Eins-gegen-Eins akzeptieren und nicht immer in Überzahl sein wollen – dann sind sie fähig, Spanien face-to-face zu begegnen, auf Augenhöhe.
Die Engländer sind daheim für ihre Leistungen sehr hart kritisiert worden. Haben Sie Verständnis dafür?
Die Kritik ist berechtigt. Ich glaube aber auch, dass man in der Mannschaft und im Trainerteam nicht zufrieden gewesen ist mit der Art und Weise, wie man gespielt hat. Auch sie haben den Anspruch, einen anderen Fussball zu zeigen. Darum fragt man sich jetzt: Sind sie von der langen Saison geschlaucht? Sind sie physisch oder mental nicht mehr frisch genug? Können sie deshalb nicht mit der Intensität auftreten, die von ihnen erwartet wird?
Jude Bellingham hat nach einem der ersten Spiele gesagt, er sei kaputt. Harry Kane ist nicht topfit.
Was macht ein Trainer in einem solchen Fall? Eigentlich weiss er, dass Ollie Watkins (Torschütze zum entscheidenden 2:1 gegen die Niederlande) frischer und dynamischer wäre. Aber wie ist es, wenn er Kane draussen lässt oder auswechselt, einen Spieler mit dieser Bedeutung, der schon so viel für sein Land geleistet hat und noch immer leisten kann? Von aussen ist das immer einfach zu bewerten. Für einen Trainer dagegen sind das schwierige Entscheide. Und Bellingham, er hat die Saison bei Real Madrid ziemlich durchgekocht beendet. Für Foden gilt das Gleiche. Et cetera.
Wie ist das für einen Trainer, wenn er wie Southgate permanent derart attackiert wird?
Es macht einfach etwas mit einem. Das spüre ich bei mir, weil ich selbst ja fordernd und selbstkritisch bin. Ich fühle mich verantwortlich, wenn meine Mannschaft nicht gut spielt. Gleichzeitig muss ich es schaffen, Abstand zu gewinnen und mich auf die Sachen zu fokussieren, die ich verändern kann.
Was heisst das im Fall von Southgate?
Das Beste ist, wenn er sich von dem löst, was er nicht beeinflussen kann, von der Kritik, die von aussen kommt. Und wenn er sich um seine eigentliche Aufgabe kümmert. Eine gute Beziehung zur Mannschaft haben. Gespräche führen. In die Köpfe der Spieler kommen. Versuchen, die richtigen Tasten zu finden, damit gewisse Automatismen zurückkommen.
Didier Deschamps ist ein anderer Trainer, der viel einstecken musste. Bei ihm wundert man sich ja, wieso er eine Mannschaft mit so viel Potenzial so langweiligen Fussball spielen lässt.
Frankreich ist mit einer gewissen Philosophie erfolgreich gewesen. Das heisst: Ordnung, Disziplin, Physis, individuelle Qualität. Aber jetzt hat das kreative Element im zentralen Mittelfeld gefehlt. Da sind alles fantastische Spieler, die wir mit Handkuss nehmen würden. Ob Tchouaméni, Camavinga, Kanté oder Rabiot. Sie haben viel Kraft, viel Volumen …
… aber nicht das Extravagante.
Genau. Keiner von ihnen kann eine Situation spielerisch auflösen wie Musiala, Wirtz, Yamal, Pedri oder Olmo. Und! – der Mittelstürmer, der ihnen die Tore schoss, wie das Giroud in den letzten Jahren immer wieder machte, fehlte ihnen ebenso.
Da half nicht, dass Mbappé weit von seiner Bestform entfernt war.
Das finde ich auch. Er war selbst unzufrieden mit seinen Leistungen. Bei ihm ist es wie bei den Engländern: Hat er ein physisches oder ein mentales Problem? Was er in den letzten zwei Jahren verarbeiten musste, all die Transfergeschichten, den Druck – das geht selbst an ihm nicht spurlos vorbei.
Er exponierte sich politisch während dieser EM, weil er den Rechtsruck in seiner Heimat befürchtete. So etwas kann eine Leistung doch beeinflussen.
Es ist unglücklich, wenn so grosse politische Themen in ein Turnier hineinspielen. Politik sollte auf der Fussballbühne keinen Platz haben. Andererseits ist es bemerkenswert, wenn sich junge Menschen derart positionieren.
Kommen wir zur Schweiz. Hat sie gegen England eine Chance vergeben, die so schnell wohl nicht mehr kommen wird?
Ich würde nicht von vergeben reden. Das tönt für mich nach: Ja, wir hätten viel besser spielen können. Die Schweiz spielte eine sehr gute EM. Viel besser war aus meiner Sicht nicht möglich. Ich sage einfach: Es gab eine sehr gute Chance auf den Halbfinal, weil drei Viertel der Mannschaft ihr höchstes Niveau erreichten.
An wen denken Sie?
Sommer wird Meister mit Inter Mailand, Akanji mit Manchester City, Schär spielt in der Premier League, Rodriguez ist so erfahren. Wir haben das Trio von Bologna mit seinem unglaublichen Flow. Und wir haben Xhaka. Was uns gefehlt hat: vorne drin ein Embolo in super Verfassung oder ein zweiter Stürmer, der sich auf ähnlichem Niveau bewegt.
Wie sehr hat die Schweiz Sie nach der problematischen Qualifikation überrascht?
Ich hatte die beiden letzten Testspiele vor der EM gesehen (gegen Estland und Österreich). Da bekam ich das Gefühl, dass die Schweiz defensiv sehr gut steht. Sie nutzte die Zeit, um einen klaren Schritt nach vorne zu machen. Ich sah hungrige Spieler. Ich war nicht überrascht von der Mannschaft, ich war positiv erfreut. Ich hatte richtig Spass, ihr zuzuschauen.
Wie viel hat die Entwicklung mit Murat Yakin zu tun?
Er schaffte es, eine gute Verbindung mit der Mannschaft und den Führungsspielern aufzubauen. Er hatte eine klare Idee, wie er spielen will. Er hatte ein Trainerteam, das funktionierte. An der Seitenlinie kam er mir sehr fokussiert vor. Er war aktiv im Coaching, aber nicht überdreht. In seinen Entscheiden war er sehr klar und clever.
Also verstehen Sie, dass er Nationaltrainer bleibt?
Klar, die EM war erfolgreich, die Entwicklung ist sehr positiv und die Kontinuität nach dem entstandenen Spirit ein gutes Zeichen.
Was bedeutet es, dass die Schweiz an sechs Turnieren in Folge mindestens die Achtelfinals erreichte?
Das ist für die Grösse unseres Landes sensationell. Das spricht für die Wahl der Nationaltrainer. Und es spricht für das sportliche Konzept in unserem Land. Dass wir viel in die Nachwuchsförderung investieren, dass viele früh in der Super League spielen oder ins Ausland wechseln. Der Erfolg der Nationalmannschaft heisst: Wir haben viele Spieler in den Top-5-Ligen, die da auch zum Einsatz kommen und mittlerweile tragende Rollen übernehmen.
Wenn es jetzt noch einen neuen Alex Frei gäbe, würde das auch nicht schaden.
Diese Diskussion wird in allen Ländern geführt, nicht nur in der Schweiz. Die Position des Mittelstürmers ist die schwierigste überhaupt. Er ist immer in Unterzahl und muss sich trotzdem durchsetzen. Auf der anderen Seite wird immer besser verteidigt, es gibt immer weniger Räume und Torchancen. Die Spieler, welche die Effizienz und den Riecher haben, um trotzdem ein Tor zu erzielen, sind rar.
Blerim Dzemaili sieht die Schweiz unter den besten vier oder fünf Mannschaften in Europa. Realistisch oder übertrieben?
Wenn ich Spanien, Deutschland, Frankreich, England, Portugal und die Niederlande sehe … Ich sage: Wir sind nahe an sie herangekommen. Im Moment haben wir die Reife in der Mannschaft, die dafür auch nötig ist. Aber es kann nicht die Erwartung sein, dass es immer so ist.
Was ist Ihnen an dieser EM sonst aufgefallen?
An solchen Turnieren überragen meistens die Disziplin und das Verteidigen, weil die Mannschaften die Fehlerquelle so gut wie möglich minimieren wollen. Technisch und physisch ist das Niveau bei allen sehr hoch. Es ist ausgeglichen, auch bei Partien, in denen grosse auf vermeintlich kleine Mannschaften trafen. Am Flügel oder zwischen den Linien braucht es vermehrt die Spieler, die Lösungen finden, wenn die Räume eng sind. Und was man auch sieht: Was es an Kräften mobilisiert, wenn man für das ganze Land spielen kann. Alle Spieler haben eine sehr hohe Bereitschaft, um die Vorgaben des Trainers umzusetzen.
Vom wem sind Sie überrascht und vom wem enttäuscht?
Positiv überrascht bin ich von der unglaublich schnellen Entwicklung, die Deutschland im letzten halben Jahr genommen hat. Enttäuscht, was heisst enttäuscht?, überrascht bin ich, dass die Italiener trotz eines Trainers mit Spallettis Aura nicht schon einen Schritt weiter gewesen sind.
Wer ist der beste Spieler dieser EM?
Rodri.
Dass Sie als Schweizer nicht Xhaka sagen?
Die beiden sind sich sehr ähnlich. Aber weil Rodri Europameister werden kann, ist er die Gallionsfigur der Spanier.
Wer ist der Trainer des Turniers? Machen Sie das vom Final abhängig?
Nein, das nicht. Trainer wie Nagelsmann und Yakin haben es nach einer schwierigen Zeit geschafft, ihre Mannschaften in ein sehr positives Licht zu rücken.
Und mit welchem Resultat gewinnt Spanien gegen England?
3:1.
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