Pionier der KernmagnetresonanzDie Einsamkeit des Richard R. Ernst
Der Schweizer Chemie-Nobelpreisträger schrieb mit 86 Jahren seine Memoiren – mit einer berührenden Offenheit. Sein Leben war geprägt von Ambition und Selbstzweifeln.
Nobelpreisträger haben genial und übermenschlich zu sein. Das gehört irgendwie zum Bild des Wissenschaftlers, der den wichtigsten Forschungspreis der Welt erhalten hat. Umso mehr überrascht die zutiefst menschliche Autobiografie des Schweizer Nobelpreisträgers Richard R. Ernst. Es ist ungewöhnlich, dass Naturwissenschaftler überhaupt Memoiren schreiben. Ernst machte das nun mit 86 Jahren, mitten in der Entstehung zog er ins Altersheim in Winterthur.
Seine Geschichte liest sich, als ob er seine Seele reinschreiben wollte. «Das Schreiben macht den Rucksack leichter, den man in seinem Leben tragen muss, und entlastet von Schuldgefühlen.» Richard R. Ernst schont sich nicht in seinem Buch.
Seine Lebensgeschichte beginnt mit dem Satz: «Ich war damals, wie fast immer später, ein einsamer Mensch, der an einem tiefen Abgrund zwischen sich und den anderen litt.» Ernst wurde am 14. August 1933 in eine traditionelle Winterthurer Familie geboren, die nicht nur Privilegien bedeutete, sondern auch verpflichtete. Der Cousin seines Vaters war Johann Rudolf Ernst, der 1912 den Zusammenschluss der Bank in Winterthur und der Toggenburger Bank zur Schweizerischen Bankgesellschaft leitete. Er war das Vorbild von Ernsts Vater, der Architekt war, Professor am Technikum in Winterthur – und Oberst der Genietruppen.
Angst zu versagen
Richard ist der Stammhalter neben seinen zwei Schwestern. Er ist ein zurückgezogener Bub, der sich stets ausgeschlossen fühlt. Der Vater ist streng, konservativ und kaum zu Hause. Beruf und Karriere gehen vor. Richard baut sich seine eigene Welt auf in seinem kleinen Chemielabor im Keller. Hier findet er seine Genugtuung.
«In meiner verzweifelten Sehnsucht und Suche nach Akzeptanz und Anerkennung fand ich etwas, was mir Respekt vor mir selbst verschaffte», schreibt er. Zudem entwickelt er als Gymnasiast eine grosse Leidenschaft für die Musik, er spielt Cello und kauft sich mit seinem Taschengeld Partituren von bekannten Werken.
«Der Begriff Zufriedenheit existiert schlicht nicht in meinem Vokabular, noch heute nicht. Manchmal frage ich mich sogar, ob ich den Nobelpreis überhaupt verdient habe.» Ernst will mit diesen Worten nicht kokettieren. «Es geht um die Frage, wonach wir suchen, was wir anstreben wollen. Ist es Liebe, ist es Selbstachtung? Ist es der Respekt anderer?», schreibt er. Seine Kindheit und Jugendzeit scheinen jedenfalls entscheidend zu sein, um seinen erbarmungslosen Perfektionismus zu verstehen.
«Der Begriff Zufriedenheit existiert schlicht nicht in meinem Vokabular, noch heute nicht.»
Die Angst, den Ansprüchen seines Vaters nicht zu genügen, zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben von Richard R. Ernst. «Er ist ein offener und toleranter Mensch. Aber auch Standesbewusstsein seiner Herkunft aus einer gutbürgerlichen Familie prägt ihn bis heute», sagt Matthias Meili. Der Wissenschaftsjournalist hat Richard Ernst über ein ganzes Jahr begleitet, um das grosse Erinnerungsmaterial in Buchform umzusetzen.
In langen Gesprächen erzählten ihm der Wissenschaftler und seine Ehefrau ihre Lebensgeschichten. Meili durchforstete 40 Aktenschränke, in denen Aufzeichnungen zur wissenschaftlichen Karriere des Nobelpreisträgers abgelegt sind.
Trotz seiner Selbstzweifel weiss Ernst genau, was er will. Für ihn gibt es nur die Wissenschaft. Im August 1956 erhält er das Diplom als Ingenieur-Chemiker ETH. Dann absolviert er die Offiziersschule. «Ich war grundsätzlich gegen das Militär, hatte eine pazifistische Ader. Aber nach dem Tod meines Vaters fühlte ich mich irgendwie verpflichtet, sein Erbe anzutreten», erinnert sich Ernst.
Vergangenheit holt ihn ein
1957 beginnt er mit seiner Dissertation und beschäftigt sich mit der Kernmagnetresonanz. Für die Forschungen auf diesem Gebiet wird er 1991 den Nobelpreis erhalten. Dieses physikalische Phänomen interessiert in den 1950er-Jahre nur wenige. Es geht dabei um bestimmte Atomkerne, die magnetisch geladen sind. In einem Magnetfeld beginnen sie, um ihre eigene Achse zu kreisen.
Die Schnelligkeit der Drehung ist in ihrer Frequenz ausgedrückt. Die Chemiker reden von Kernspin. Bestrahlt man die Kerne mit Radiowellen einer bestimmten Frequenz – der Resonanzfrequenz –, absorbieren sie diese Strahlung und geben sie nachher wieder ab. Mit dieser neu entdeckten Methode, der NMR-Spektrografie (Nuclear Magnetic Resonance), konnte die Zusammensetzung chemischer Substanzen analysiert werden.
Sein Doktorvater Hans Primas, ein grosser Forscher und einfühlsamer Mensch, entpuppt sich für ihn als «Rettungsanker» in einem Labor, «das mich sonst womöglich in eine tiefe Depression gestürzt hätte.» Seine Vergangenheit holt ihn ein. Der Institutsleiter Hans Heinrich Günthard, der Bruder des bekannten Schweizer Turners Jack Günthard, erinnerte ihn an die Beziehung zu seinem Vater. «Ich fühlte mich in seiner Gegenwart immer wie der kleine Junge, der nicht versteht, was der grosse Meister zu sagen meinte.»
Ernst beisst sich durch. 1962 erhält er für seine Doktorarbeit die Silbermedaille der ETH Zürich. «Allerdings war mir das fast peinlich, denn schon bei der Niederschrift meiner Doktorarbeit hatte ich entdeckt, dass ich in den Berechnungen einen numerischen Fehler gemacht hatte – nur einen kleinen Vorzeichenfehler, der das theoretische Ergebnis nicht wesentlich beeinflusste.»
«Ernst ist ein selbstkritischer, aber auch ein gegenüber anderen kritischer Mensch geblieben, jedes Wort legt er auf die Goldwaage», sagt Matthias Meili. Das Faszinierende an der Autobiografie ist, wie letztlich die permanente Unzufriedenheit einen Menschen zum Erfolg stösst. Seine Doktorarbeit hält Ernst als «unnütz und ohne Relevanz». Nun will er mit seinen Erkenntnissen der NMR-Methode etwas Nützliches tun. Er schwört sich, niemals an die Universität zurückzukehren.
Nur die Forschung zählt
Er nimmt 1963 eine Stelle bei der Firma Varian Associates an, die in Kalifornien NMR-Geräte entwickelte. Bevor er in die USA auswandert, ehelicht er Magdalena, mit der er nun seit fast 60 Jahren verheiratet ist. «Allerdings sagte ich ihr gleich, dass ich nie viel Zeit für die Familie haben werde», schreibt er. In Übersee legt er den Grundstein für seinen späteren Erfolg. Er entwickelt zusammen mit dem Amerikaner Wes Anderson ein mathematisches Verfahren, das die NMR-Spektrografie auch für die Identifizierung komplexer Biomoleküle anwendbar macht. Varian Associates lässt das Verfahren als Anderson-Ernst-Patent eintragen.
Ernst fühlt sich zwar wohl in den USA, aber die Firma will seine Forschung nicht weiter vorantreiben. Überhaupt ist der hochbegabte Wissenschaftler enttäuscht, er glaubt, seine Arbeiten würden ignoriert und seien von geringem Interesse. Auf Anfrage seines ehemaligen Chefs Hans Heinrich Günthard kehrt er an die ETH zurück. Sein erster Eindruck an der Hochschule war schlecht: «Mir schien, ich würde absichtlich behindert. Das Klima war von Eifersucht und Futterneid geprägt, vom Kampf um Anerkennung und Ressourcen.»
Ernst schickt sich noch mehr in die Arbeit, seine Frau und die drei Kinder sieht er kaum noch. «Ich wusste nicht einmal, wo die Kinder in die Schule gingen.» Er und sein Team treiben die Forschungen voran und verbessern die NMR-Methodik weiter. Die Besessenheit hat aber auch seinen Preis. Ernst erleidet einen Nervenzusammenbruch, von dem er sich aber schnell wieder erholt. Und nur eine Familientherapie, der er unter Druck zustimmt, rettet sein Privatleben.
«Ab dem Tag, an dem mir der Nobelpreis zugesprochen wurde, herrschte Eiszeit.»
Wissenschaftlich jedoch geht es in grossen Schritten voran. Er arbeitet immer mehr mit Kurt Wüthrich zusammen, der sich durch die Entzifferung komplizierter Biomoleküle mit der NMR-Methode einen Namen machte. «Er war der selbstbewusste Leistungsmensch, der immer sagen wollte, wo es langgeht. Ich blieb der eher scheue, in sich gekehrte Forscher, der lieber im stillen Kämmerlein vor sich hin brütete», schreibt Ernst.
Die Arbeiten der beiden Wissenschaftler spielten eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der technischen Naturwissenschaften und Medizin. Sie lieferten die Grundlagen für die heute weltweit verbreiteten Kernspintomografen (MRI). Doch als Richard Ernst am 16. Oktober 1991 den Nobelpreis für Chemie erhielt, ist Feuer im Dach. «Es war ein Desaster. Dass nur ich ausgezeichnet worden war, schien mir ungerecht», schreibt Ernst. Wüthrich war enttäuscht und wütend. «Ab dem Tag, an dem mir der Nobelpreis zugesprochen wurde, herrschte Eiszeit.» Das änderte erst wirklich, als auch Wüthrich 2002 die höchste Ehrung erhielt.
Die Autobiografie von Richard R. Ernst besticht durch seine Authentizität, seine unverblümte Sprache und detaillierten Erinnerungen. Es ist dem Leser überlassen, ob er diese bedingungslose Aufopferung für eine Sache gut- oder schlechtheissen soll. Ernst selbst sieht seine Memoiren als Vermächtnis und als Plädoyer für eine Wissenschaft, die für den Menschen einen nachhaltigen Nutzen bringen soll.
Er kritisiert, dass Bildung zu stark auf Fakten und hochspezialisiertes Detailwissen setze und zu wenig auf Persönlichkeit und Charakter. Er ist ein Anhänger der humanistischen Bildung, in der auch Kultur, Religionen und Philosophie Platz haben. Es ist wohl kein Zufall, dass der Nobelpreisträger eine der bedeutendsten Sammlungen tibetischer Kunst besitzt. «Jeder Forscher braucht mehrere Standbeine, um wirklich vorwärtszukommen.»
Richard R. Ernst: Nobelpreisträger aus Winterthur, Autobiografie, Hier und Jetzt Verlag für Kultur und Geschichte, 2020, 39 Fr.