Corona in RusslandDie Devise des Kremls: Alles unter Kontrolle
Die offizielle Zahl der Infizierten ist verdächtig niedrig. Die Regierung scheint jedoch den Überblick verloren zu haben.
Wochenende und Sonnenschein, normalerweise wäre der Gorki-Park überlaufen. Nun sperren ihn Zäune ab, die Innenstadt wirkt ausgestorben, obwohl in Moskau bislang keine generelle Ausgangssperre gilt. Stattdessen hat der Präsident allen eine Woche Ferien verordnet. Ausserhalb des Zentrums sitzen die Menschen in Scharen im Grünen und grillieren, das zeigen Fotos im Netz, trotz Corona-Krise.
In einer Zeit, in der Menschen weltweit verunsichert sind, kommen in Russland die üblichen Ungereimtheiten hinzu. Jeder spürt, dass etwas nicht stimmt. Doch wie schlimm es ist, dazu gibt es widersprüchliche Theorien. Die offizielle lautet, dass Russland die Corona-Krise besser im Griff habe als andere Länder. Bis Sonntag gab es offiziell 1534 Infizierte und acht Todesfälle. Sehr viele im Vergleich zu den Zahlen vor einer Woche. Sehr wenig, vergleicht man sie mit anderen Ländern.
Kritik an den Medien
Wahrscheinlich ist, dass auch die staatlichen Stellen das Ausmass der Krise nicht überblicken. Offensichtlich ist, dass der Kreml dennoch die Deutungshoheit über die Lage behalten möchte. Wer der offiziellen Darstellung widerspricht, riskiert Strafen. So wie Anastassija Wassiljewa, die die Gewerkschaft «Allianz der Ärzte» leitet und mitunter als Hausärztin des Kremlkritikers Alexei Nawalny aufritt. In Onlinevideos ruft sie Ärzte dazu auf, offen über das Ausmass der Pandemie zu sprechen. «Ich wurde gerade von der Kriminalpolizei angerufen», sagt sie in einem Video. «Man will mich verhören, weil ich meine, dass es in Russland viel mehr Fälle des Coronavirus gibt, als die Behörden sagen.»
Vor etwa einer Woche erklärte die zuständige Aufsichtsbehörde, mehrere Medien hätten «falsche Informationen» über das Coronavirus veröffentlicht und damit «die öffentliche Ordnung und die öffentliche Sicherheit» gefährdet. Ihnen droht nach dem neuen «Fake News»-Gesetz eine Strafe von 500’000 Rubel, etwa 6000 Franken. Betroffen ist etwa der Radiosender Echo Moskwy wegen eines Interviews mit dem Politologen Walerij Solowej. Dieser spricht darin von mehr als tausend Corona-Toten – zu einer Zeit, in der es laut Behörden noch kein einziges Opfer gab.
«Man will mich verhören, weil ich meine, dass es in Russland viel mehr Fälle gibt.»
Bis vergangenen Mittwoch lag die Zahl der russischen Corona-Toten daher bei null. Wenn man Solowej heute fragt, spricht er bereits von 2600 Opfern. Die Informationen, sagt er, stammten aus einem internen Bericht an die Regierung, den ihm eine Quelle zugespielt habe. Sein Interview hat der Sender aus dem Netz gelöscht.
Grenze zu China früh geschlossen
Die Zweifel kann der Kreml nicht wegwischen, etwa über die ungewöhnlich häufigen Fälle von Lungenentzündung. Bereits Mitte März veröffentlichte die Wirtschaftszeitung RBK Zahlen vom Statistikamt: Demnach soll die Zahl der Lungenentzündungen im Januar um 37 Prozent höher gewesen sein als im Januar 2019. Allerdings: Auf ganz Russland bezogen, macht der Anstieg nur noch 3 Prozent aus. Das Moskauer Gesundheitsamt erklärte sogar, dass die Zahl der Erkrankten dieses Jahr gesunken sei.
Niemand kann wirklich erklären, warum es in Russland bisher so wenig Corona-Fälle gibt. Vielleicht war der Test nicht sensibel genug, das ist eine Theorie. Eine andere ist, dass Russland seine Grenzen zu China früh genug geschlossen hat. Wahrscheinlich ist die Mehrheit der Infizierten bisher nicht getestet worden. Moskaus Bürgermeister Sergei Sobjanin sagte kürzlich: Die meisten Menschen, die aus dem Ausland gekommen seien, sässen in Quarantäne zu Hause, ungetestet. «Sie fühlen sich gut, zum Glück, sie sollten dort bleiben. Aber viel mehr Menschen sind krank.» Nikolai Malyschew, der zuständige Infektionsspezialist der Stadt, erklärte, man bereite sich auf eine «explosive Entwicklung» vor, auf eine Art «Kernreaktion».
Die unterschiedlichen Botschaften verunsichern die Menschen. Ferien für alle? Auch da ist der Kreml zurückgerudert. Wer von zu Hause aus arbeiten könne, solle das auch in der freien Woche tun, hiess es nun. Auf nichts scheint mehr Verlass.
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