Analyse zu den Folgen der WahlDie Brutalität des Regimes hat die Euphorie in Weissrussland erstickt
Alexander Lukaschenko muss die Angst schüren, um seine Macht zu erhalten. Der Westen darf die weissrussische Bevölkerung nicht alleinlassen.
Weissrussland war wie verwandelt am Wahltag vor einem Jahr. Die Menschen standen vor den Urnen Schlange – und all jene, die sich Veränderung wünschten, waren euphorisch: Sie glaubten fest, dass sie gewonnen hatten. Doch dann fälschte der Diktator Alexander Lukaschenko das Wahlergebnis.
Hunderttausende wagten anschliessend, was sich viele unter ihnen noch nie getraut hatten: Sie protestierten gegen den Machthaber, schwenkten die verbotene weiss-rot-weisse Fahne. Sie glaubten fest, dass sie gewinnen würden. Auch Journalisten und die meisten Experten waren im August vorigen Jahres überzeugt: Das wars für Lukaschenko.
Dass sie sich alle derart irren konnten, ist ein Unglück für Weissrussland, für das Land, für das Volk, aber es lässt sich erklären. Denn auch Alexander Lukaschenko hat in jenen revolutionären Wochen gespürt, dass ihm die Macht entgleiten könnte. Und gerade deshalb packte der Machthaber aus Minsk mit aller Gewalt, mit aller Brutalität zu. Deshalb konnten die Demonstranten auf der Strasse damals nicht gewinnen. Sie blieben bewundernswert friedlich – selbst dann noch, als das Regime mit Panzern anrückte.
In Weissrussland wurde es nach den aufregenden Wochen des grossen, bunten, flächendeckenden Protests totenstill. Nicht nur die wichtigsten Aktivisten wurden erbarmungslos verfolgt, nicht bloss eine Handvoll, sondern Tausende: Kein Mensch in Weissrussland, der am Regime zweifelt, kann sich mehr sicher fühlen. Lukaschenkos Repressionen sind umfassend, selbst im Ausland schlägt er zu. Indem er allen Angst macht, Gegnern ebenso wie Untergebenen, sichert der Diktator seine Macht – und diese Angst muss er ständig füttern.
Wenn dem Regime in Minsk heute etwas gefährlich werden kann, dann ist es die eigene Brutalität. In seinem blinden Machterhaltungswahn haben Lukaschenkos Handlanger mehrfach an Orten zugeschlagen, an denen es nicht nur Weissrussen trifft: im Olympischen Dorf oder an Bord einer irischen Passagiermaschine. So widersinnig es klingen mag: Nach solchen Taten schöpfen viele Menschen in Weissrussland neue Hoffnung, weil sich die Welt dann an ihre unerträgliche Lage erinnert. Die meiste Zeit fehlt ihnen genau das, was sie vor einem Jahr mutig gemacht hat: die Gewissheit, dass sie nicht allein sind. An einem Ort, an dem niemand mehr zu sagen wagt, was er denkt, wird jeder einsam.
Der Diktator tut genau das Gegenteil
Bislang widersetzt sich Lukaschenko hartnäckig dem internationalen Druck. Seit die EU von ihm fordert, die Gewalt zu beenden, politische Gefangene freizulassen, in Dialog mit seinem Volk zu treten, tut der Diktator das genaue Gegenteil. Selbst Wladimir Putins Einfluss scheint begrenzt zu sein. Der Kreml fordert seit Monaten Reformen in Weissrussland, aber Lukaschenko laviert und verzögert. Er möchte kein Stück seiner Macht abgeben.
Um den Status quo zu erhalten, wird der Diktator fast alles tun. Der Westen muss ihm das so schwer wie möglich machen, auch durch eine Ausweitung der Sanktionen. Lukaschenkos Unterstützer sollen spüren, dass niemand in Europa straflos gegen Menschenrechte verstossen darf. Noch dringender ist es, jene Weissrussen, die ins Ausland geflohen sind, besser vor dem Regime zu schützen. Ein Schritt dazu wäre, dass die EU die Geheimdienstler aus den weissrussischen Botschaften ausweist. Zudem muss Europa den Menschen in Weissrussland vermitteln, dass es sie nicht alleinlässt – sondern unterstützt.
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