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«Die Arroganz der Macht macht die Menschen wütend»

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Die Bilder ähneln sich, die derzeit aus Moskau an den Wochenenden übermittelt werden: Bereitschaftspolizisten mit Helmen, in schwarz-blauen Tarnanzügen und in Kampfstiefeln, die auf Demonstranten einprügeln und andere Protestierende im Polizeigriff zu gepanzerten Bussen abführen.

Die Demonstrierenden wirken weit weniger martialisch, obwohl sie an Absperrungsgittern rütteln, Spottlieder singen und sich mit Slogans gegenseitig anspornen. Doch allein in ihrer Sommerkleidung – kurze Hosen, T-Shirts und Sportschuhe – signalisieren sie Friedfertigkeit.

So war es auch wieder an diesem Samstag. Nach offiziellen Angaben wollten sich 1500 (aber aus Sicht von Beobachtern deutlich mehr) Menschen in der Moskauer Innenstadt versammeln, um über den Boulevardring in friedlichem Protest «zu spazieren». Doch dieses Vorhaben wurde von den schwergerüsteten Sondereinsatzkräften im Keim erstickt.

Gegen manipulierte Wahlen

Es war der vorläufig letzte Höhepunkt einer Protestwelle, die einsetzte, als vor drei Wochen deutlich wurde, dass viele Oppositionskandidaten von der offiziellen Wahlkommission nicht zu der Regionalwahl am 8. September zugelassen werden. Seither demonstrieren die Moskauer regelmässig. Zu einer genehmigten Kundgebung am 20. Juli kamen 22'500 Teilnehmer, so viele, wie seit den Protesten am Bolotnaja-Platz in den Jahren 2011/2012 nicht mehr, als die Menschen gegen eine manipulierte Parlamentswahl und gegen die dritte Amtszeit von Wladimir Putin in Scharen auf die Strasse gingen.

In der darauffolgenden Woche spitzte sich der aktuelle Konflikt um die Regionalwahl zu, denn Russlands bekanntester Oppositionspolitiker Alexei Nawalny hatte für den 27. Juli zu einer ungenehmigten Demonstration vor dem Moskauer Rathaus aufgerufen. Obwohl die Polizei die Bürger explizit vor einer Teilnahme gewarnt hatte, kamen wieder Tausende (die Schätzungen reichen von 3500 bis weit über 10'000 Teilnehmer), die von der Polizei mit Gewalt daran gehindert wurden, eine grössere Menschenansammlung vor dem Rathaus zu bilden und in kleineren Gruppen in die Seitenstrassen abgedrängt wurden. Knapp 1400 Protestierende wurden dabei vorübergehend festgenommen.

Wenn es das Kalkül der Behörden war, die Demonstranten durch Härte von weiteren Aktionen abzuschrecken, so ging diese Rechnung nicht auf. Kaum war die Demonstration vor dem Rathaus vergangene Woche beendet, rief die Oppositionspolitikerin Ljubow Sobol zu dem Protestzug am heutigen Samstag auf, dem erneut die Genehmigung verweigert wurde.

Und doch folgten dem Aufruf wieder Tausende Menschen, die keine Scheu hatten, ihren Unmut zum Ausdruck zu bringen: Auf dem Puschkin-Platz im Herzen der Stadt riefen sie «Schande» und «Russland wird frei sein», bevor sie in Polizeibusse gezerrt wurden. Auf der Künstler- und Ausgehmeile Arbat forderten Demonstranten Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin zum Rücktritt auf. Knapp 700 von ihnen wurden nach Angaben des Bürgerrechtsportals OWD-Info festgenommen.

Niemand rechnete mit einem solchen Aufruhr

Das Ausmass des Protests macht immer deutlicher, dass die Staatsmacht die Regionalwahlen nicht ernst genug genommen hat, als die zentrale Wahlkommission fast ausschliesslich kremltreue Kandidaten registrierte und Regierungsgegner wegen angeblicher Formfehler nicht zuliess. Es waren die üblichen Manipulationen im politischen Betrieb Russlands, von denen niemand annahm, dass sie bei dem vergleichsweise unbedeutenden Urnengang einen solchen Aufruhr auslösen würden.

Bild einer Festnahme: Oppostionspolitikerin Ljubow Sobol wehrt sich heftig gegen die Beamten. (Keystone/3. August 2019)

Doch die Moskauer sind immer weniger dazu bereit, sich ihrer Rechte berauben zu lassen: «Die immense Arroganz der Macht bei gleichzeitigem Stillstand macht die Menschen wirklich wütend», sagte die Politologin Lilia Schewtsowa.

Und die Wut löst bei den Demonstranten eine Beharrlichkeit und Unerschrockenheit aus, die die Staatsgewalt immer hilfloser erscheinen lässt: Schon vor der Demonstration vor dem Rathaus liess sie Alexej Nawalny als bekanntestes Gesicht der Opposition in 30-tägige Haft nehmen, weil er zur Teilnahme an der ungenehmigten Protestaktion aufgerufen hatte.

Demonstrationen finden trotz Festnahme der Führungsfiguren statt

Das konnte die Aktion allerdings nicht verhindern, ebenso wenig wie die Festnahme der Oppositionspolitker Ilja Jaschin, Iwan Schdanow und Dimitri Gudkow in den Tagen nach der Demonstration vor dem Rathaus Tausende Bürger davon abhielt, als Zeichen des Protests an diesem Samstag über den Boulevardring marschieren zu wollen. Das konnten erneut nur wieder Einsatzkräfte der Polizei durch physische Gewalt abwenden, obwohl kurz vor der Aktion auch noch Ljubow Sobol festgenommen wurde, und der Protestbewegung damit so gut wie alle bekannten Führungsfiguren abhanden gekommen waren.

Hartes Durchgreifen allein dürfte das Problem für die Staatsmacht auf Dauer aber nicht lösen. Denn reine Repression birgt nach Ansicht der Politologin Schewtsowa die Gefahr, dass sich die Reihen auf der Gegenseite, die bislang oft untereinander zerstritten war, noch mehr schlössen.