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Nachruf auf Sempé
Der Zeichner, der als Kind geschlagen wurde

Der Zeichner und seine bekannteste Figur: Der französische Karikaturist Jean-Jacques Sempé vor einem Bild des «petit Nicolas».
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Sein schmaler Strich mit Tusche, die manchmal kindlich naiven Figuren, die er zeichnete, und vor allem die Weigerung, sich der Obszönität oder dem Sadismus hinzugeben, machten ihn anfällig für die schlimmsten Beschimpfungen, mit denen man einen Karikaturisten bewerfen kann. Dass er nämlich ein liebevoller Zeichner gewesen sei, der die menschlichen Schwächen mit Verständnis karikiert habe.

Das Missverständnis lässt sich insofern nachvollziehen, als Sempé mit dem «Petit Nicolas» weltbekannt geworden ist, den er sich mit René Goscinny Ende der Fünfzigerjahre ausgedacht hatte und der in dreissig Sprachen übersetzt wurde. Da traf einer der grössten komischen Zeichner auf einen der grössten komischen Texter. Beide waren sie Franzosen, dem Land der «bande dessinée», das der Welt zwei andere unvergessliche Comic-Figuren schenkte, die beide ebenfalls von Goscinny getextet worden waren: Astérix der Gallier und Lucky Luke der Westernheld.

Mit den Geschichten des unzähmbaren Buben Nicolas, bei dem alles selbst dann zur komischen Katastrophe eskaliert, wenn er sie gar nicht als Streich konzipiert hat, sondern sie ihm einfach passiert in seiner kindlichen Ungeduld und Fantasie, betrieb Sempé eine Art von Selbsttherapie.

Denn der Zeichner, als uneheliches Kind geboren und in Bordeaux aufgewachsen, durchlebte bei seinen Adoptiveltern triste Jahre. Sein Vater hatte ein massives Alkoholproblem, der Adoptivsohn wurde oft geschlagen und durchlebte eine dermassen freudlose Kindheit, dass er diese später kompensierend mithilfe seiner berühmtesten Figur wegzeichnete. Schon als Kind hatte er sich zum Zeichnen zurückgezogen. Die Schule interessierte ihn nicht, er musste mehrere Klassen wiederholen. Und aus dem Militär wurde er ausgeschlossen, weil er gezeichnet hatte, statt Wache zu stehen.

Wortlose Beredsamkeit

Sein Humor lag in der wortlosen Beredsamkeit, mit welcher er die Körpersprache seiner Figuren karikierte. Da sitzt ein schüchterner Angestellter in seinem Stuhl. Ihm gegenüber lehnt sich, in seinem Sessel hinter einem enormen Pult, der fette Chef zurück. Körper gewordene Machtverhältnisse, ausgedrückt auch auf den Zetteln, die beide vor sich stehen haben. «Halten Sie sich kurz», heisst es beim Angestellten, «Bleibe ruhig», hat der Chef sich aufgeschrieben.

Oder wir sehen einen Rentner mit Pfeife, selbstzufrieden in seinem Sessel auf der Dachterrasse, vor sich ein Teleskop montiert. Seine Frau bringt ihm den Znacht hoch. Und fragt, das ist jetzt aus der Erinnerung heraus zitiert: «Sollte es im Weltall intelligente Wesen geben: Was macht dich so sicher, dass sie ausgerechnet mit dir in Kontakt treten wollen?»

So wie Mani Matter interessierte sich Jean-Jacques Sempé für die Kleinen, die sich gegen das Grosse durchsetzen müssen und daran meistens scheitern.

Und weil er so subtil und gleichzeitig so ausdrucksstark zeichnete, kommen viele seiner Cartoons ohne Worte aus. Oft zeigt er die Menschen vor riesigen Umgebungen. So wie Mani Matter interessierte sich Sempé für die Kleinen, die sich gegen das Grosse durchsetzen müssen und daran meistens scheitern.

Er karikierte sie alle

Als Karikaturist agierte er weitaus boshafter, als manche seiner Zeichnungen den Anschein machten. In seinem satirischen Band «St. Tropez» von 1968 zum Beispiel entlarvte er die Dekadenz der französischen Elite. Aber er konnte auch auf Linke losgehen und sich über die Biederkeit der Kleinbürger lustig machen.

Schliesslich reüssierte er nicht nur als Karikaturist, der über vierzig Bildbände veröffentlichte, sondern wurde auch als Illustrator über seine französische Heimat hinaus berühmt. Als Beleg sowohl der künstlerischen Vielfalt wie auch der internationalen Ausstrahlung lässt sich der Umstand zitieren, dass der Franzose über 100 Titelseiten des «New Yorker» illustrierte, dem angesehenen amerikanischen Magazin.

Am Donnerstag ist Jean-Jacques Sempé, der seine Pariser Wohnung wegen seiner Gebrechlichkeit seit Jahren nur noch selten verlassen konnte, in seinem Ferienort gestorben. Er wurde 89 Jahre alt. Er sei friedlich entschlafen, teilte sein Biograf und Freund Marc Lecarpentier der Agentur Agence France Press mit, seine Frau und Freunde seien bei ihm gewesen.

Sempé, twitterte die französische Premierministerin Élisabeth Borne, das seien Zeichnung gewesen und Text. Aber auch Lächeln und Poesie.