75 Jahre IsraelDer Tag, an dem Mordechai Rechtman eine neue Heimat bekam
Er floh als Kind vor den Nazis und spielte vor 75 Jahren zum Gründungsakt Israels. Der berühmte Musiker Mordechai Rechtman gehört zu der Generation, für die der jüdische Staat Zuflucht und Zuhause zugleich wurde.
Im oberen Stockwerk hat er damals gesessen, eine Treppe hoch vom Festsaal aus. «Ich hab den Ben-Gurion nicht gesehen», sagt Mordechai Rechtman. «Aber wir haben so laut gespielt, dass man es unten gehört hat.» Er blies das Fagott, ringsherum sassen dicht gedrängt die Musiker des Palestine Symphony Orchestra, und gespielt haben sie nur ein einziges Stück: «Hatikwa», die Hoffnung, dieses wunderbar melancholische Lied, das in diesem Augenblick zum ersten Mal als Hymne des Staates Israel erklang.
«Von allen, die da mitgemacht haben», sagt Mordechai Rechtman, «bin ich der Einzige, der noch übrig geblieben ist.»
75 Jahre ist das her, Rechtman war damals 21, heute ist er 96 Jahre alt. Man schrieb den 14. Mai 1948 oder, besser gesagt, den 5. Tag des Ijjar 5708 nach jüdischem Kalender. In die Geschichtsbücher eingegangen ist er als der Tag, an dem David Ben-Gurion in Tel Aviv feierlich die Gründung des israelischen Staats proklamierte. Seither ist der Jom Haatzma-ut, der Unabhängigkeitstag, ein Feiertag in Israel, der in diesem Jahr auf den 26. April fällt. Für Mordechai Rechtman ist es der Tag, an dem er endlich eine neue Heimat bekam.
Die alte Heimat war Deutschland, dort wurde er 1926 geboren. Heute sitzt er in seinem Wohnzimmer im Norden Tel Avivs, wo er vom zwölften Stock aus einen schönen Ausblick auf die Skyline hat. Auf dem Tisch steht aufgeklappt der Laptop, über Skype hält er Kontakt zu seinen Schülern, die über die ganze Welt verteilt sind. Noch heute vergeht kein Tag ohne Arbeit, kein Tag ohne Musik. Das hat ihn durchs Leben getragen.
«Stech ihn doch!», rief der Mitschüler
Er ging in die erste Klasse, als die Nazis an die Macht kamen. Er erinnert sich an die Religionslehrerin, die im Unterricht jeden einzelnen Schüler nach seinem Glauben fragte. «Ich war der einzige Jude», erzählt er. Was das bedeutete, hat er bald darauf in der Pause erlebt, als ihn die Mitschüler auf dem Schulhof umzingelten. «Einer aus einer höheren Klasse zog ein Taschenmesser», berichtet er, «ein anderer rief: ‹Stech ihn doch!›» Bis heute macht ihn das fassungslos: «Das war ein Junge von neun oder zehn Jahren, den die Eltern gelehrt haben, einen Juden umzubringen – und das schon 1933.»
Rechtmans Eltern betrieben eine kleine Textilfabrik. Der Vater sagte zur Machtergreifung der Nazis: «Das geht vorbei.» Die Mutter sagte: «Wir gehen weg.» Noch 1933 flüchteten sie, getarnt als Touristen, nach Brüssel. Da gab es Verwandtschaft, da ging er in die Schule. «Sie haben mich dort Hitler genannt, weil ich Deutsch gesprochen habe», berichtet er, ausgerechnet ihn, das Flüchtlingskind. Weil der Vater keine Arbeit fand in Belgien, traf die Mutter erneut eine Entscheidung: «Wir gehen nach Palästina.»
Theodor Herzl, der Begründer des modernen Zionismus, hatte 1897 schon zur Gründung eines jüdischen Staats auf dem alten biblischen Boden aufgerufen. Doch noch herrschten dort die Briten, denen der Völkerbund Palästina 1920 nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs als Mandatsgebiet übertragen hatte. Mordechai Rechtman war acht Jahre alt, als er dort 1934 mit seinen Eltern ankam. In Haifa stiegen sie vom Schiff und fuhren mit der Pferdekutsche nach Tel Aviv. Auf die Rückständigkeit des Landes waren sie nicht vorbereitet. «Immer wieder sind wir im Sand stecken geblieben», sagt er: «Meine Mutter hatte Tränen in den Augen.»
Es war kein leichter Start im Orient für alle Flüchtlinge aus Deutschland. Bildungsbürger zumeist, mussten sie nun in der Landwirtschaft arbeiten oder auf dem Bau. «Mein Vater hat in Tel Aviv die Jabotinsky-Strasse gepflastert, er nahm am Anfang jede Arbeit an», sagt Rechtman. Mitgebracht hatten die jüdischen Einwanderer aber nicht nur ein paar Koffer mit den schnell gepackten Habseligkeiten, sondern auch ihre Kultur. Im Hause Rechtman hiess das vor allem: Musik. «Damit bin ich geboren», sagt er, «auf dem Grammofon haben wir Opern und Operetten gehört.»
Mit zwölf Jahren fand er zum Fagott, genauer gesagt fand das Fagott ihn. Die Familie zog in eine neue Wohnung, im Nachbarhaus lebte der Erste Fagottist des Palestine Symphony Orchestra, und der entdeckte das Talent des Jungen. Nach drei Jahren Unterricht bekam dieser seine erste Stelle: Mit 15 Jahren wurde Mordechai Rechtman zum Ersten Fagottisten an der Oper in Tel Aviv. Es war der Anfang einer Karriere, die ihn zum Fagottisten von Weltrang machte, zu einem bewunderten Lehrer, zu einem Arrangeur, dessen Bearbeitungen weltweit gespielt werden, und zu einer Legende in seinem Land.
Mit anderen jungen Musikern gründete Rechtman bald schon ein Jugendsinfonieorchester, und 1946 schlug seine erste grosse Stunde: ein Probespiel beim berühmten Dirigenten Leonard Bernstein. Fortan war er der Erste Fagottist des Palestine Symphony Orchestra, das nach der Staatsgründung 1948 umbenannt wurde in Israel Philharmonic Orchestra – und er blieb auf diesem Posten 45 Jahre lang. Vom berühmten Musiker Sergiu Celibidache stammt der Satz: «Ich wünschte unter den Dirigenten zu sein, was Mordechai Rechtman unter den Fagottisten ist.»
Jerusalem, 14. Mai 1948, 16 Uhr
Das Orchester war 1936 vom polnischen Geiger Bronislaw Huberman gegründet worden. Hier fanden die geflüchteten Musiker aus Europa zusammen – und so wie andere aus dem Jischuw, dem jüdischen Gemeinwesen in Palästina, vorab schon die Institutionen für den künftigen Staat aufbauten, so legten die Musiker die Fundamente für das kulturelle Leben.
Politisch sassen die britischen Mandatsherren nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen allen Stühlen. Im Land eskalierte die Gewalt. Es kämpften Juden gegen Araber sowie Araber und Juden gegen die Briten. Im Juli 1946 sprengten rechte jüdische Untergrundkämpfer das Jerusalemer King-David-Hotel in die Luft, in dem die britische Mandatsverwaltung ihren Sitz hatte. 91 Tote waren zu beklagen, und dieser Vorfall trug mit dazu bei, dass die Briten das Ende ihrer Mandatsherrschaft schliesslich für den 15. Mai 1948 ankündigten.
Die Vereinten Nationen hatten zuvor am 29. November 1947 einen Teilungsplan für das Mandatsgebiet beschlossen. 56 Prozent des Territoriums wurden darin für einen unabhängigen jüdischen Staat festgeschrieben, 43 Prozent für einen arabischen Staat, für Jerusalem war ein «internationales Sonderregime» vorgesehen. Die arabische Seite lehnte den Plan ab, doch die Juden stimmten zu – und wählten den 14. Mai 1948 als Tag der Staatsgründung, weil der 15., der Tag des britischen Abzugs, ein Schabbat war.
Die Zeremonie begann um exakt 16 Uhr im Tel Aviver Kunstmuseum auf dem Rothschild-Boulevard. Draussen stand eine erwartungsvolle Menschenmenge. Drinnen versammelten sich gut 200 geladene Gäste, plus Mordechai Rechtman und seine Orchesterkollegen ein Stockwerk höher. Alles wirkte ein wenig improvisiert. Für die Ausstattung standen ganze 200 Dollar zur Verfügung. Das reichte gerade für ein grosses Porträtbild von Theodor Herzl und zwei israelische Fahnen, unter denen der 61-jährige Ministerpräsident David Ben-Gurion die Unabhängigkeitserklärung verlas.
Sie passte auf zwei Schreibmaschinenseiten, 32 Minuten nur dauerte die gesamte Veranstaltung. Zum Abschluss stimmte das Orchester die neue Hymne an, und alle sangen mit: «So lange ist unsere Hoffnung nicht verloren / Die Hoffnung, zweitausend Jahre alt / Ein freies Volk zu sein in unserem Land / Im Lande Zion und in Jerusalem.»
«Das war ein Riesenerlebnis, es war eine glückliche und erhabene Stimmung», erinnert sich Mordechai Rechtman. «Aber wir wussten nicht, was daraus werden würde.»
Nach der Feier kam der Krieg
In der Nacht wurde gefeiert auf den Strassen von Tel Aviv, von Haifa und im jüdischen Teil Jerusalems – und am nächsten Morgen befand sich das Land im Krieg. Die Armeen von fünf arabischen Staaten griffen Israel an. Es war ein Kampf ums Überleben, der auch von den Überlebenden des Holocaust geführt werden musste. Die Auswirkungen dieses Unabhängigkeitskriegs prägen das Land und den Konflikt mit den Palästinensern bis heute. Israel, mit seiner provisorischen Armee, siegte gegen die Übermacht. Rund 700’000 Palästinenser flohen oder wurden in die Flucht getrieben. Für sie ist der israelische Feiertag der Tag der «Nakba», der Katastrophe. Zugleich strömten Juden ins Land, die ihrerseits aus Marokko, Tunesien, Ägypten oder anderen arabischen Staaten vertrieben wurden.
Mordechai Rechtman meldete sich gleich am ersten Kriegstag zum Militärdienst. Doch schon zwei Tage später kam der Anruf, dass er nicht an der Front gebraucht werde, sondern im Orchester. «So kommt es, dass ich bis heute nicht ein einziges Mal eine Waffe in der Hand gehabt habe.» Das Israel Philharmonic Orchester spielte in den Monaten des Krieges auf allen möglichen ungewöhnlichen Bühnen: vor Soldaten an der Front, vor Verletzten im Feldlazarett. «Wir sind im Panzerwagen zu Konzerten gefahren, aber wir haben keinen Auftritt verpasst», erzählt er. An Soldaten erinnert er sich, die von Musik nicht viel wussten, aber das Orchester gar nicht mehr gehen lassen wollten: «Wo gibt es das denn sonst, dass man um seine Existenz kämpft und die Musik weitergespielt wird?»
Sehr bald schon tourte Rechtman mit dem Orchester durch die ganze Welt, mit einer Ausnahme: Deutschland. Erst 1971 reisten die Israelischen Philharmoniker mit Zubin Mehta zum ersten Mal ins Land der Mörder von sechs Millionen Juden, zu einem Konzert in Berlin. «Ich habe dort mit niemandem Deutsch sprechen wollen, nur Englisch», sagt er. Als Zugabe haben sie damals «Hatikwa» gespielt, die Hymne. «Das war ein Moment des grossen Stolzes», sagt Rechtman. «Es war die Botschaft: Wir leben noch, wir leben gut, und wir machen noch ganz grosse Kunst.»
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