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Zum Tod des Schweizer Poeten Philippe Jaccottet
Der stille, grosse Dichter

Der Schweizer Schriftsteller, Lyriker und Übersetzer Philippe Jaccottet ist im Alter von 95 Jahren gestorben.
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Baudelaire schrieb einst, dass ein Gedicht vielleicht die beste Interpretation eines Gemäldes geben könne. Eine Bezeichnung, die auch auf Philippe Jaccottets poetisches Werk zutrifft: eine Poesie von berückender Einfachheit und solcher Stille, dass man unwillkürlich den Atem anhält, um die Magie dieser Ordnung nicht zu stören.

Die immer gleiche, kaum merklich variierte Beschreibung von Landschaften, Bäumen, Blumen steht parallel neben der stets wiederholten Darstellung von Krügen, Flaschen und Schalen. Hier wie dort beleuchtet gedämpftes Licht diese Stillleben und Landschaften ohne Menschen.

Philippe Jaccottet schrieb seine ersten Gedichte zwanzigjährig, im Jahr des Kriegsendes und der Atombombe: Die Poesie schien dem menschlichen Irrsinn wenig entgegensetzen zu können. Anfang der 50er-Jahre zog der Dichter, der 1925 in Moudon geboren wurde, in Lausanne zur Schule ging und einige Jahre in Paris gelebt hatte, nach Grignan im Norden der Provence und verliess dann kaum mehr dieses Städtchen, das für ihn der Mittelpunkt seines poetischen Kosmos werden sollte: ein Irgendwo und zugleich das ganze Universum.
Unablässig beschrieb er von da an seine direkte Umgebung, immer aufs Neue nach den Wörtern suchend, die diese konkrete Wirklichkeit ausdrücken könnten. Jaccottet zweifelte an der Macht der Sprache und der Kunstfertigkeit der Poeten, welche die Wirklichkeit der Welt mit Bildern und Bedeutungen zudecken. Was der Mensch mit Sinn belegt, erweist sich oftmals als Illusion oder Zwang.

Er schrieb seine ersten Gedichte zwanzigjährig, im Jahr des Kriegsendes und der Atombombe.

Von seinen ersten Lyrikbänden in metrischen Versen über die poetische Prosa seiner bekanntesten Bücher wie «Der Spaziergang unter den Bäumen» (1957) hat Jaccottet genau dieses einfache Setzen einer Aussage immer neu ausprobiert, oftmals auch frühere Gedichte wieder aufgenommen und erneut veröffentlicht. Er hat sich sein ganzes Lebenswerk lang wiederholt, und doch gleichen sich zwei gleiche Gedichte nie: Sie sind der immer neue Versuch, die Dinge gleichsam selber sprechen zu lassen.

Späte Anerkennung

Dichtung ist der Kampf darum, überhaupt etwas sagen zu können. Sie kann dem Nichts nur Wörter entgegensetzen, also fast nichts: Der Unterschied liegt einzig an diesem «fast». Dieses poetische Programm hat sich bis zu seinen letzten Gedichtbänden, bis zu «Gedanken unter den Wolken» (2018) nicht verändert. Jaccottet hat es auch in vielen Essays, Aufzeichnungen, Artikeln zu erklären versucht. Er hat es vielleicht ebenso bei den Schriftstellern wiedergefunden, die er ins Französische übersetzt hat: Hölderlin, Rilke, Robert Musil, Ungaretti, Montale. Und allmählich, vergleichsweise spät, wurde der Waadtländer Jaccottet als einer der bedeutendsten französischsprachigen Dichter der Gegenwart angesehen, mit wichtigen Preisen ausgezeichnet – unter anderem mit dem Keller-Preis, dem Petrarca-Preis, dem Grossen Schiller-Preis –, zum Gegenstand universitärer Forschungen und Kongresse erhoben.

Das alles passte wohl nicht zum stillen Dichter, der sein Leben lang um die winzigsten Dinge, um die kleinsten Gewissheiten gerungen hatte. Dass er noch zu Lebzeiten in die prestigiöse Pléiade-Reihe aufgenommen wurde, hat ihn aber zweifellos gefreut. In der Nacht auf Donnerstag ist Jaccottet im Alter von 95 Jahren in seinem Haus im südfranzösischen Grignan gestorben.