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Franklin Roosevelt und der New Deal
Der Präsident, der Amerika seinen Mut zurückgab

Wirtschaftskrise und New Deal in den USA: Präsident Roosevelt (Mitte) besucht ein Lager des Civilian Conservation Corps.

Gaston County, North Carolina, 1934. Die junge Schriftstellerin, die mit dem Bus auf dem staubigen, flachen Land ankam, sah auf den ersten Blick nicht aus wie diejenige, die den Armen und Verzweifelten in diesem Notstandsgebiet eine Stimme geben würde. Sie trug schwarz getuschte Wimpern, knallroten Lippenstift und einen grossen Hut mit Fasanenfedern. Aber sie gewann rasch das Vertrauen der Leute, und schliesslich hatte man sie von ganz oben geschickt, aus dem Weissen Haus in Washington.

Martha Gellhorn war 25 Jahre alt und wie ausgesuchte andere Journalisten und Journalistinnen im Spezialauftrag von Harry Hopkins unterwegs. Der hagere, gesundheitlich angeschlagene, aber überaus tatkräftige Hopkins war die rechte Hand des neuen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt bei der Bekämpfung der schlimmsten Wirtschaftskrise, welche die USA je gesehen hatten. Hopkins versprach sich von Martha Gellhorn und den anderen Emissären ungefilterte Berichte über die Lage im Land.

Während der Grossen Depression: Eine aus Müll gebaute Baracke in der Nähe der Halde Sunnyside, Herrin, Illinois.

Gellhorn schritt mit ihren eleganten französischen Schuhen durch die Elendssiedlungen der Grossen Depression. In Gaston County sprach sie mit Lehrern, resignierten Müttern, mit Arbeitern, deren Stolz gebrochen war durch schiere Bedürftigkeit. Sie beschrieb verkommene Häuser, «die Wände voller Löcher, zersplitterte Fenster, ohne Kläranlage, voller Ratten».

Fassungslos sass Gellhorn vor unterernährten Schulkindern. Verwahrlosung, Krankheiten, die Syphilis, häusliche Gewalt, Hoffnungslosigkeit: Die Liste des Elends nimmt in Gellhorns Berichten kein Ende. «Es ist unvorstellbar», schrieb sie an Hopkins, «dass in einem zivilisierten Land solche Zustände herrschen.» Nie zuvor hatten die USA eine solche Wirtschaftskrise gesehen wie jene, die nach dem «Schwarzen Freitag» im Oktober 1929 an der New Yorker Börse ausgebrochen war und fast die ganze Welt erfasst hatte.

Jede fünfte Bank war zahlungsunfähig

Als Präsident Roosevelt im März 1933 sein Amt antrat, lagen die Vereinigten Staaten am Boden: Jede fünfte Bank war zahlungsunfähig, Millionen Familien verloren ihre Ersparnisse. Die Arbeitslosenquote stieg von 9 Prozent im Jahr 1930 auf 23 im Jahr 1932. In den Städten schlossen zahlreiche Fabriken komplett, und auf den Strassen von New York oder Chicago versammelte sich bald ein Heer von Arbeitssuchenden, abgerissene und zerlumpte Menschen, die nichts mehr zu verlieren hatten.

Noch katastrophaler war die Lage auf dem Land. Schuld daran war eine anhaltende Dürreperiode in den Great Plains, die 1935 und 1936 ganze Regionen in eine Art Staubwüste verwandelte. Zehntausende Farmer waren gezwungen, Haus und Hof zu verlassen, um in Kalifornien oder anderswo ein paar Dollar als Wanderarbeiter zu verdienen. Einer der berühmtesten Romane der Literatur handelt davon, John Steinbecks «Früchte des Zorns».

Die New-Deal-Gesetzgebung wurde mit grosser Geschwindigkeit erlassen. Sobald die Sondersitzung des Kongresses ein Gesetz verabschiedet hatte, unterzeichnete Roosevelt es.

Mit ungeheurer Energie begann der neue Mann im Weissen Haus seine erste Amtszeit. Noch heute kann man über das Tempo und die Risikobereitschaft nur staunen, mit der Roosevelt seine Gesetze durch den Kongress peitschte, getrieben von einem unerschütterlichen Optimismus. Als erste Massnahme versuchte die Regierung den Finanzmarkt zu beruhigen, was mit der viertägigen Schliessung aller Banken begann und dem Gesetz, das dem Präsidenten weitreichende Befugnisse bei der Bankenreform zugestand und tatsächlich wieder Vertrauen bei den Kunden schuf: Erstmals seit langem zahlten die Amerikaner wieder Geld ein, statt nur abzuheben.

Anders als sein konservativer Vorgänger Herbert Hoover war Roosevelt der Ansicht, dass in dieser Krise ein staatliches Rettungsprogramm gigantischen Ausmasses nötig war. Auf dem Spiel stand nichts weniger als der Kapitalismus selbst, der American Way of Life, der auf die Freiheit des Individuums vertraut, aber nun ohne die Hilfe aus Washington verloren war. Die enorme Summe von mehr als drei Milliarden Dollar floss in die Kassen der Bundesstaaten und Lokalbehörden, die damit Jobs für mehr als zwanzig Millionen Amerikaner schufen.

Freiwillige bei Waldarbeiten.

Von hoher Symbolkraft war die Gründung der Civil Works Administration, ein Paradeprojekt des New Deal: Vor allem ungelernte Arbeiter profitierten von den kurzfristigen Arbeitsbeschaffungsmassnahmen, die dazu beitrugen, den harten Winter 1933/1934 zu überbrücken. Im ganzen Land entstanden neue Strassen, Schulgebäude, Brücken, Parks und Kultureinrichtungen. Letztlich war der New Deal ein grosses Bündel an Wohltaten und Zumutungen, ein Experiment, bei dem der Präsident, anders als der heutige Chef im Weissen Haus, auf den Rat der besten Experten des Landes vertraute. Vielleicht gehört das zu dem Unterschied zwischen Grösse und Grössenwahn: die Bereitschaft, rasch zu lernen, sich mit fähigen Mitarbeitern zu umgeben und ihnen Verantwortung anzuvertrauen.

«Das Einzige, was wir fürchten müssen, ist die Furcht selbst.»

Franklin D. Roosevelt, 32. US-Präsident

Roosevelt machte aus dem New Deal ein Jahrhundertprojekt, in dem alle ihren Platz finden sollten. Eine Gemeinschaftsaufgabe, die er den Hörern in seinen abendlichen Radioansprachen am Kamin einhämmerte: Ihr seid nicht allein, wir stehen zusammen, «the only thing we have to fear is fear itself» – Das Einzige, was wir fürchten müssen, ist die Furcht selbst –, sagte er bei seiner ersten Vereidigung 1933. Diesem Terror der Furcht begegnete Roosevelt durch eine Massenmobilisierung, «a call to arms», wie er das nannte, einen Ruf zu den Waffen. Dies erinnert an die Rhetorik der Präsidenten Frankreichs und der USA heute, welche zum «Krieg» gegen Corona aufrufen.

Arbeiter auf dem Weg zum Auffüllen eines Grabens mit Schubkarren während des Baus des Lake Merced Parkway Boulevard unter Präsident Franklin D. Roosevelts New Deal.

Die Kritiker Roosevelts argwöhnten, der Präsident sei auf dem besten Wege zur Autokratie. Roosevelt, heute als Schöpfer des New Deal und Sieger über Hitler im milden Licht der Heldengrösse verehrt, befand sich über Jahre im Sturm heftiger Kritik; die Spaltung des Landes stand der heutigen wenig nach. Die Rechte schmähte ihn als Kommunisten und Enteigner, zu seinen härtesten Widersachern zählte anfangs der von erzkonservativen Republikanern dominierte Oberste Gerichtshof. Einer dieser Männer sagte: «Ich werde niemals in Ruhestand gehen, solange der verkrüppelte Hurensohn noch im Weissen Haus ist.»

Roosevelt sass seit einer Polio-Erkrankung im Rollstuhl. Der Staat als Retter in höchster Not – das ist die Lehre aus dem New Deal, der sich dann auszahlte, als die Welt sich wirklich auf einen Krieg einstellen musste, den Zweiten Weltkrieg, aus dem die USA als siegreiche Weltmacht hervorgingen. Die Debatten über die Notmassnahmen erinnern an die heutigen, welche Rechte der Staat einschränken darf und welche keinesfalls.

Demokratische Regierungsform muss sich beweisen

Mit Blick auf das in Faschismus und Nationalismus versinkende Europa sagte Roosevelt 1938: «Die Demokratie ist bei verschiedenen grossen Völkern verschwunden, ... weil sie der Arbeitslosigkeit und Unsicherheit müde geworden sind, weil sie nicht mehr zusehen wollten, wie ihre Kinder hungerten, während sie selber hilflos dasassen und mitansehen mussten, wie ihre Regierungen verwirrt und schwach waren.» Um die Freiheit zu retten, «müssen wir den Nachweis führen, dass die demokratische Regierungsform in ihrer praktischen Arbeit der Aufgabe, die Sicherheit des Volkes zu schützen, gewachsen ist».

Und Roosevelt gelang dieser Nachweis. Es gab Gesetze im Schnellverfahren, aber keine Aushebelung der Verfassung. Es gab einen machtbewussten Präsidenten, der über das Radio direkt zu seinem Volk sprach, aber keine Einschränkung der Meinungsfreiheit. Roosevelt sorgte dafür, dass die Beamtengehälter gekürzt und die Gewerkschaften als Tarifpartner anerkannt wurden; er etablierte eine Alters- und Arbeitslosenversicherung; er erhöhte die Steuern der Reichen, förderte günstige Immobilienkredite für Landwirte und Hausbesitzer und erfand eine ganze Reihe neuer Jobprogramme. Trotz allem, bis weit in Roosevelts zweite Amtszeit herrschten in Teilen des Landes grosse Not und Verzweiflung.

Die Bilder aus den Dreissigern zeigen Amerikaner, die trotz Armut ihren Stolz nicht verlieren

Davon zeugen die Bilder, die namhafte Fotografen zwischen 1935 und 1943 bei ihren Reisen durch die Vereinigten Staaten machten. Die Fotografien zeigen ein Land am Abgrund und Menschen, die beinahe nichts mehr besitzen ausser etwas Selbstachtung. Unvergessen sind die ikonischen Bilder von ausgemergelten Vätern und Müttern, die ihre Kinder in den Armen halten, von Wanderarbeitern, die sich ihr windschiefes Dach über dem Kopf gerade selbst zusammengezimmert haben, von verlassenen Farmhäusern, die im Staub versinken.

Ikonisches Bild der Krise: Wanderarbeiterin, 1936 fotografiert von Dorothea Lange.

Es sind aber auch Bilder von Amerikanern, die selbst in der grössten Krise noch stolz auf ihre Heimat sind, die gemeinsam Musik machen und die beim kostenlosen Barbecue Gemeinschaftssinn zeigen. Es sind Bilder eines Landes, das sich langsam aus den Trümmern erhebt und zum normalen Leben zurückkehrt.

Die Reporterin Martha Gellhorn hatte den Glauben daran nicht verloren. Zwar bereiste sie ein verwüstetes Land und schrieb: «Noch so ein Mythos: Amerika ist wunderschön. O Christus, was für ein Gedanke. Amerika ist hässlich, zum Erschrecken hässlich, roh und ungepflegt, gemein, vermüllt, unbehaglich.» Und doch, ihr Herz schlug für die Menschen in dieser Schreckenszone, und ihre Berichte halfen, sie zurückzuholen in die Gesellschaft, in die sie gehörten: «Wenn die Phrase von der amerikanischen Seele je eine Bedeutung hatte, dann hier. Sie sind vernünftig und guten Sinnes, freundlich und loyal.»