Wegweisendes Urteil gegen ShellDer Ölkonzern muss seinen Kohlendioxidausstoss drastisch verringern
Der Konzern hat in Den Haag einen grossen Klima-Prozess verloren und muss nun bis 2030 den Ausstoss von Treibhausgasen um 45 Prozent senken.
Das britisch-niederländische Unternehmen Shell, Europas grösster Ölkonzern, muss seinen CO2-Ausstoss in den kommenden neun Jahren nahezu halbieren. Das entschied ein Gericht in Den Haag am Mittwoch und gab damit der Klage der Umweltschutzorganisation Milieudefensie und anderer Gruppen nach. Sie hatten Shell zu einer Reduktion des Treibhausgasausstosses um 45 Prozent im Vergleich zu 2019 aufgefordert. Das Unternehmen verstosse gegen die globalen Klimaziele und investiere weiterhin im grossen Stil in die Förderung von Öl und Erdgas, hatten sie argumentiert. De facto könnte das Urteil auf eine Halbierung des gesamten Geschäfts von Shell hinauslaufen. 2019 machte der Konzern, der seinen Hauptsitz in Den Haag hat, einen Umsatz von 352 Milliarden Dollar, weit überwiegend mit fossilen Brennstoffen.
Zum ersten Mal überhaupt zwingt ein Gericht einen grossen Konzern damit zu einer weitreichenden Änderung seiner Geschäftspolitik im Dienste des Klimaschutzes. Das könnte in anderen Ländern nachgeahmt werden und grosse Folgen für die Energiebranche insgesamt haben. Weltweit sind mehr als 1700 Klima-Klagen hängig; in den meisten Fällen geht es dabei aber um den Ausgleich von schon entstandenen Schäden. In einer Reaktion nannte Shell das Urteil «enttäuschend» und kündigte an, in Berufung zu gehen.
Nichts gegen die Erderwärmung unternommen
Shell verursacht nach Schätzungen der Organisation Friends of the Earth, die den Prozess initiierte, rund neunmal mehr CO2 als die Niederlande. Die Organisation argumentierte, dass der Konzern nichts gegen die dadurch verursachte Erderwärmung unternommen habe, obwohl er seit 60 Jahren von den schädlichen Konsequenzen des Öl- und Gasverbrauchs gewusst habe. Roger Cox, einer der Anwälte der Kläger, hatte in der Klage auf interne Dokumente verwiesen, die schon in den 1980er-Jahren die verheerenden Folgen einer zu erwartenden Erderwärmung um 3,5 Grad bis 2050 aufzeigten. Cox war auch Anwalt der Stiftung Urgenda, die 2015 den niederländischen Staat durch eine Klage zu einer Nachbesserung seiner Klimapolitik gezwungen hatte.
Als Basis der Klage gegen Shell hatte Cox die Vorhersagen des Weltklimarats genommen, die in das Pariser Abkommen von 2015 mündeten. Das Gericht übernahm diese Prognosen vollständig und leitete daraus Verpflichtungen ab, die auch für den Öl- und Gaskonzern gelten. Shell hatte angeführt, dass es sich selbst zum Klimaschutz verpflichtet und beschlossen habe, den CO2-Ausstoss bis 2030 um 20 Prozent, bis 2035 um 45 und bis 2050 um 100 Prozent zu senken. Das sei nicht konkret genug, erklärte das Gericht.
Shell engagiert sich zwar auch im Bereich erneuerbare Energien. 2019 aber flossen 95 Prozent seiner Investitionen in Öl und Gas, ein Anteil, der auch bis 2030 nach bisherigen Plänen nicht wesentlich sinken soll. Um dem Urteil nachzukommen, müsste sich der Konzern vermutlich von einem grösseren Teil seines Geschäfts trennen, entweder durch Verkauf oder Stilllegung von Förderungen. Shell hatte argumentiert, dass dieser Anteil sofort von der Konkurrenz übernommen würde und dem Klima dadurch nicht gedient sei. Das Gericht verwarf dies. «Auch andere Unternehmen müssen ihren CO2-Ausstoss senken», sagte die Richterin. Man wisse, dass der Konzern zu sehr grossen Schritten gezwungen werde, doch werde dies gerechtfertigt durch die Gefahren der Klimaerwärmung.
Das Recht auf Leben und auf Familie
Eine der vermutlich weitreichendsten Feststellungen des Gerichts ist die Aussage, dass auch Unternehmen an die Einhaltung von Menschenrechten gebunden sind. Konkret wurden das Recht auf Leben und das Recht auf Familie angeführt, wie sie in Art. 2 und 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert werden. Konzerne hätten hier eine eigene Verantwortung, sagte die Vorsitzende Richterin. Wie gross diese sei, hänge ab von Art und Dauer des Schadens, den sie anrichten würden, sowie von ihrem Einfluss und ihren Möglichkeiten, daran etwas zu ändern. Diese Verantwortung beziehe sich auf die komplette Wertschöpfungskette des Unternehmens und somit nicht nur auf die eigene Produktion, sondern auch auf Zulieferer und Kunden.
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