Olympiasieger Gianmarco TamberiDer Mann mit der Hochsteckfrisur verzückt das Stadion
Der feurige Italiener hat die vielleicht schönste Geschichte von Tokio geschrieben. In Zürich bringt er den Letzigrund zum Kochen.

Er hätte es im Vorfeld nicht sagen brauchen, Gianmarco Tamberi. Dass er sich vor allem auf das Publikum freue in Zürich, es wird schnell offensichtlich an diesem Abend im Letzigrund.
Der Hochspringer ist keiner, der seine Emotionen verbergen würde. Als er einläuft, mit den Fingern ein Herzchen Richtung Zuschauer formt, den Diamanten küsst, die Trophäe, die es zu gewinnen gibt beim Final der Diamond League, wird es richtig laut auf der Tribüne. Wird es danach bei jedem Sprung des 29-Jährigen, weil er am liebsten jeden der knapp 20’000 dazu bewegen würde, im Rhythmus zu klatschen, während er nach vorne und nach hinten wippt, von den Fersen auf die Zehen und zurück, ehe er losläuft und sich in die Höhe schraubt. Hinterher animiert Tamberi alle, die Welle für ihn zu machen.
Und irgendwann, die Vorbereitungen für die Schlussfeier sind schon abgeschlossen, nur Stabhochspringer Armand Duplantis in der anderen Ecke des Stadions ist auch noch im Einsatz, schauen alle im Rund auf Tamberi. Er geniesst es, stellt den Diamanten mit viel Pathos direkt neben die dicke blaue Matte, überspringt auch die 2,34 m, gewinnt die Gesamtwertung, schnappt sich die Trophäe, eine italienische Flagge und kostet die wunderbare Stimmung noch mehr aus.

Dieser Mann, der reichlich unterhält in Zürich, hat jüngst auch an den Olympischen Spielen für einen der ganz grossen Momente gesorgt. In Tokio ist vor knapp sechs Wochen alles noch etwas verrückter, hüpft Tamberi wie von Sinnen auf und ab, wälzt sich auf der Bahn, ein Sturzbach an Tränen fliesst ihm über die Wangen.
Gold hat Tamberi gewonnen. Das ist schon eine grosse Geschichte, das Wie macht sie noch grösser. Denn plötzlich müssen die Helfer im Nationalstadion von Tokio das oberste Podest verbreitern, damit die Corona-Sicherheitsvorkehrungen eingehalten werden können. Denn Tamberi steigt die Stufen nicht alleine hoch, der Katari Mutaz Essa Barshim tut es ebenso. Sie greifen nach der Hand des anderen, strecken sie gemeinsam hoch, hängen sich anschliessend Gold um, der eine dem anderen.
Das kitschige Märchen
Bis 2,37 m sind sie durchgekommen, ohne auch nur eine Stange abgeworfen zu haben. Dann, bei 2,39 m, sind sie ebenso im Gleichschritt unterwegs, reissen je dreimal – ein Stechen um den Olympiasieg hätte es da geben sollen. Die beiden schauen sich an, sie wollen nicht, keiner möchte dem anderen die Goldmedaille wegnehmen, so sagen sie es später. Lieber teilen sie Gold und ihre Freude. Das Reglement lässt es zu, das kitschige Märchen hat sein Happy End.
Am Mittwoch sitzt Tamberi vor dem Meeting in Zürich, wo Barshim fehlt, vor einem Mikrofon, die langen dunklen Haare zu einem Dutt drapiert. Dieser Tag bei Olympia ist Thema. Tamberi sagt: «Mutaz und ich sind keine Gegner, wir sind Freunde. Dass wir den besten Moment unseres Lebens teilen konnten, war einfach nur magisch.» Ihr jüngster Weg hat sie geeint.

2016: Tamberi ist auf dem Höhepunkt seines Schaffens, überspringt in Monte Carlo 2,39 m und verbessert seinen italienischen Rekord. Doch der Gewaltssprung fordert seinen Tribut: Bänderverletzung im Sprungfuss, viel schlimmer geht es für einen Hochspringer nicht. Die Ärzte zweifeln, ob er je wieder Sport würde treiben können, doch Tamberi hat erst einmal andere Sorgen.
Alleine aus dem Bett kommen, alleine zur Toilette gehen, nichts ist mehr selbstverständlich. Er, der Sportler auf seinem Zenit, nur noch 6 Zentimeter entfernt vom Fabelweltrekord von Javier Sotomayor von 1993, ist zur Abhängigkeit verdammt bei den alltäglichsten Dingen.
Der Italiener sagt, sie seien vielleicht privilegiert als Profisportler, «weil wir das tun können, was uns Spass macht. Aber keiner kann sich vorstellen, was Sportler durchmachen, wenn solche Dinge passieren.» Tamberi verpasst Olympia in Rio.
Im Zimmer eingeschlossen
2017 versucht er sein Comeback, scheitert beim Diamond-League-Meeting in Paris früh. Er schliesst sich in seinem Hotelzimmer ein, weint, will niemanden sehen. «Am Tag danach klopfte Mutaz an die Tür. Er liess sich nicht abwimmeln, wollte mit mir reden», erzählt der 29-Jährige gegenüber dem Magazin «Spikes». Schliesslich lässt er Barshim rein. Dieser habe ihn beruhigt, sagte ihm, er brauche nun Geduld.
Ein Jahr später sind die Rollen vertauscht – Barshim hat sich dieselbe Verletzung zugezogen. Tamberi steht ihm bei, obwohl er selbst noch um eine einigermassen vernünftige Rückkehr kämpft. Der Kopf ist blockiert, «es wäre besser gewesen, ich hätte mir die Verletzung beim Treppensteigen zugezogen und nicht beim Hochsprung, weil ich wirklich Angst hatte», sagt er. Erst Barshims Comeback 2019, das diesem glückt, gibt Tamberi den nötigen Mut. Er sagt: «Es wäre einfacher gewesen, aufzugeben und nicht mehr an meinen Traum zu glauben.» In Tokio zieht er einen Gips aus der Tasche, der Traum ist auf diesem Stück Weiss verewigt: «Road to Tokyo 2020». Es ist ein langer Weg, ein beschwerlicher, er endet mit einer speziellen Krönung. Erst in Tokio. Dann in Zürich.
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