Massenverhaftungen in RusslandDer Kampf geht weiter – am nächsten Samstag
Über zehn Zeitzonen hinweg gingen in Russland Menschen auf die Strasse. Die Polizei reagierte nervös und antwortete teils mit brutaler Gewalt. Doch die Menschen sind wütend.
Irgendwann brachen dann auch vor der «Matrosenruhe» Unruhen aus. So heisst das Untersuchungsgefängnis, in dem Alexei Nawalny einsitzt, in einer komfortablen Zelle mit Fernseher und Kühlschrank, wie es heisst. Ob Nawalny die Menschen auf der Strasse hören konnte, weiss man nicht. Wen die Polizisten dort zu fassen bekamen, zerrten sie durch den Schnee in die Busse.
Das waren Ausläufer einer Protestwelle, wie sie Russland seit Jahren nicht mehr erlebt hat. Über zehn Zeitzonen hinweg, also in der halben Welt, protestierten am Samstag Russen gegen Wladimir Putin. Mal waren es Hunderte, mal Zehntausende, Studenten, Rentner. Nawalny selbst hatte zu den Protesten aufgerufen. Er war vergangenen Sonntag in Moskau festgenommen worden, gleich nach seiner Rückkehr aus Deutschland, wo er sich von einer lebensbedrohlichen Vergiftung erholt hatte.
Polizisten prügeln auf Demonstranten ein
Es kamen aber nicht nur Anhänger des Oppositionellen zum Protest, die Motivation vieler reichte tiefer. Der Kreml hat über die Jahre jedem Einzelnen immer mehr Freiheiten genommen. Zu den vielen Dingen, die verboten sind, gehören auch spontane Demonstrationen. Aber das hat die Leute nicht abgeschreckt. Der Sicherheitsapparat jedenfalls reagierte, wie er meist reagiert, mit Gewalt.
Omon-Spezialkräfte in schwarzen Helmen und blauer Camouflage-Uniform räumten den Moskauer Puschkin-Platz. Schilder voran schoben sie die Demonstranten vom Platz. Eines der vielen Videos zeigt Menschen, die in die Metro fliehen. Ein Mann versucht noch, über die Brüstung zu entkommen, Menschen strecken ihm ihre Hände entgegen. Doch Einsatzkräfte schlagen sie mit Stöcken weg, schlagen auf den Mann ein. Im Hintergrund hört man die Durchsage, die seit Stunden läuft: «Verehrte Bürger, diese Veranstaltung ist ungesetzlich. Wir tun alles, um ihre Sicherheit zu gewährleisten.»
Die Bilder der Proteste in diesem Land sind immer ähnlich. Irgendwann schwärmen die «Kosmonauten» – so nennen die Russen sie wegen ihrer schweren Helme – in Formation aus. Die Polizisten schlagen sich ihren Weg durch die Menge, ziehen scheinbar wahllos Protestierende heraus. Manchmal, wenn sie nicht weiterkommen, prügeln sie blindlings auf die Leute ein. Als würde sich das Problem in Luft auflösen, wenn sie nur fest genug zuschlügen. Am Samstag nahmen Einsatzkräfte landesweit 3324 Menschen fest, wie die unabhängige Organisation OWD-Info zählte.
Nawalnys Mitstreiter werden fast immer festgenommen, sobald die Polizei sie auf einer ungenehmigten Demo erkennt. Deswegen beantwortet die Oppositionelle Ljubow Sobol ziemlich gehetzt die Fragen der Reporter. Gerade als sie sagt, wie froh sie über die grosse Teilnahme sei, wird sie festgenommen. Die Sicherheitsorgane scheinen nervöser zu sein als sonst, obwohl sie doch alle Mittel haben, die Demonstration zu kontrollieren. «Sie haben keine Angst vor den Protestierenden, sondern vor Putin», schreibt die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja auf Telegram. Innerhalb des Machtapparats will niemand Fehler machen – oder zu wenig tun. Gerade jetzt nicht.
Der Junge ist nur halb so gross wie der Polizist, der ihn wegschleift.
In Moskau nimmt die Polizei sogar ein Kind fest, mindestes eins, rote Jacke, gelber Rucksack, vermutlich ein Junge. Er ist nur halb so gross wie der Polizist, der ihn wegschleift. Der Teenager, sagt die Ombudsfrau der Regierung für Kinder später, sei wieder bei seinen Eltern. Im fernen Wladiwostok jagten Einsatzkräfte die Protestierenden von der Strasse. Im sibirischen Jakutsk trugen sie die Festgenommenen bei minus 50 Grad über das ewige Eis.
In Sankt Petersburg trat ein Polizist einer Frau mit solcher Wucht in den Bauch, dass sie einen Meter nach hinten flog. Sie hatte gefragt, warum er den jungen Mann festgenommen habe, den er abführte. «Nieder mit dem Zaren!», riefen die Protestierenden in der einstigen Zarenstadt. Petersburg ist Putins Heimatstadt, deswegen ist er dort aber nicht beliebter als anderswo. Später fluteten Menschen die Hauptverkehrsstrasse der Innenstadt. Irgendwann rief Nawalnys Team sie über Onlinemedien auf, nach Hause zu gehen.
Trotz vieler bekannter Bilder: Es war nicht alles wie immer. Die Wut der Menschen scheint dieses Mal grösser zu sein. Die meisten flüchten nicht, sondern weichen nur aus, Handykameras in der Hand. Sie schreien «Schande!». Am Moskauer Gartenring bewerfen Protestierende Spezialkräfte mit Schneebällen, Schneebälle gegen schwer Bewaffnete. Auch ein Dienstwagen der Regierung bekommt einen Treffer ab. Ein paar junge Männer treten nach der Limousine, springen auf die Motorhaube. Der Fahrer musste später ins Spital, wie die Nachrichtenagentur Ria berichtete.
Als Alexei Nawalny noch in der Charité in Berlin um sein Leben kämpfte, gab es keine grossen Proteste in Russland. Aber es sprach sich rum, dass er mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet worden war und im Koma lag. Und dann veröffentlichte sein Team nach seiner Rückkehr ein Video, in dem Nawalny über einen Palast am Schwarzen Meer spricht, der nach seinen Recherchen von Vertrauten des Präsidenten gemanagt werde. «Ich habe einen Palast für eine Milliarde Dollar», stand auf einem Protestschild neben einem Bild Putins. Und: «Meine Bürger haben kein Recht auf Freiheit.»
Wer lacht, hat weniger Angst
Manche bringen Klobürsten mit zur Demo, weil es in jenem Palast am Schwarzen Meer Klobürsten für rund 750 Franken das Stück gebe, sagt Nawalny. Wenn die Menschen über die Mächtigen lachen, haben sie weniger Angst vor ihnen. Das weiss Nawalny selber wohl am besten. Auf die Frage, wie es sich angefühlt habe, mit Nowitschok vergiftet zu werden, sagte er, dass sich die Berührung eines Dementors genau so anfühlen müsse. Das sind die Monster aus «Harry Potter», die einem die Seele aus dem Leib saugen.
Nawalny hat überlebt und ist zurückgekommen, fast wie Harry Potter. Und auch Nawalny hat sich verändert, er hat noch mehr Einfluss als früher. Als er Anfang letzter Woche im Schnellverfahren zu 30 Tagen Haft verurteilt wurde, sagte er an die Adresse Putins, dass sich der alte Mann im Bunker wohl sehr fürchte. Am selben Tag rief er zum Protest auf. Und es wird weitergehen – am kommenden Samstag.
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