ZoomDer grösste Friedhof der Welt
Wadi al-Salam in Najaf, im «Tal des Friedens» im Irak, ist so gross wie 1310 Fussballfelder. Fotoreporter Alex Kühni schildert seine Eindrücke von der Grabstätte für fünf Millionen Tote und die Rituale bei den Beisetzungen.

Gräber, Gräber, nichts als Gräber. «Betritt man den Friedhof, scheint man darin zu versinken», sagt Alex Kühni nach seinem Besuch in Wadi al-Salam. «Bereits nach mehreren Metern sieht man in alle Richtungen nur noch Gräber.» Die riesigen Dimensionen des Friedhofs lassen sich aber erst aus der Vogelperspektive einigermassen erahnen. Eindrücklich zu sehen ist das auf den Drohnenaufnahmen des Schweizer Fotoreporters.
Nachdem er erstmals von dem Friedhof gehört und erste Bilder davon gesehen habe, sei ihm sofort klar gewesen, dass er selber dorthin reisen müsse, sagt Alex Kühni. «Ich wollte mehr über Wadi al-Salam erfahren.»
Wadi al-Salam im irakischen Najaf gilt als grösster Friedhof der Welt. Schätzungsweise fünf Millionen Gräber beherbergt das «Tal des Friedens», wie Wadi al-Salam auch genannt wird. Der Friedhof erstreckt sich über eine Fläche von 917 Hektaren. 1310 Fussballfelder hätten darauf Platz. Jeden Tag werden Hunderte von Menschen zu Grabe getragen. Wadi al-Salam wird seit 1400 Jahren von den schiitischen Muslimen als Friedhof genutzt.

Für die Schiiten ein heiliger Ort
Najaf, 180 Kilometer südlich von Bagdad gelegen, ist ein heiliger Pilgerort der Schiiten. In einem Mausoleum ruht hier Ali Ibn Abi Talib, Cousin und Schwiegersohn des Propheten Mohammed. Der Überlieferung zufolge übernahm er um das Jahr 656 als Kalif die Führung der Muslime. Nach Überzeugung der Schiiten ist Iman Ali der erste rechtmässige Nachfolger Mohammeds.
So wie Najaf als Kraftzentrum der Schiiten gilt, ist Wadi al-Salam ein Ort, der die Verstorbenen, so die Hoffnung, direkt in ein glücklicheres Jenseits führt. In Wadi al-Salam werden Schiiten aus aller Welt bestattet. Die meisten Toten stammen aus dem Irak und dem Iran.
Der Umgang mit den Verstorbenen bis zur Beisetzung folgt klaren Regeln. Die Leichname werden gewaschen, also von den Sünden gereinigt, einbalsamiert und in weisse, nahtlos verschnürte Grabtücher gewickelt. Die Grabtücher sind oft mit Koranversen bedruckt. Die Verstorbenen werden dann in eine Moschee gebracht oder direkt zu Grabe getragen – je nachdem, wie religiös deren Angehörige sind. Bei den Muslimen ist es üblich, dass die Toten innerhalb von 24 Stunden bestattet werden.
Frauen müssen Abstand halten
Der zeremonielle Akt einer Beerdigung erfolgt in der Moschee sowie beim Waschen und Einwickeln der Toten. Bei der Beisetzung selber sei kein Geistlicher mehr dabei, berichtet Alex Kühni, der in Wadi al-Salam mehrere Beerdigungen beobachtet hat. «Und bei sehr religiösen Beisetzungen dürfen Frauen überhaupt nicht anwesend sein, oder sie müssen einen Abstand von ein paar Metern halten, insbesondere wenn ein Mann bestattet wird.» Diese Art von Frauendiskriminierung kennen moderne Familien nicht.

Bei der Beisetzung befördern zwei Totengräber den Leichnam durch ein meist nur schulterbreites Loch in die Grabkammer. Der Totengräber, der sich in der Grabkammer befindet, platziert dann den toten Körper auf der rechten Seite liegend – mit dem Gesicht in Richtung Mekka. Danach schliessen die Bestatter die Grabkammer mit Ziegelsteinen und schütten Erde darauf. Gefestigt wird die Erde, indem Wasser darüber gegossen wird. Am Ende spricht ein Totengräber mit der Trauergruppe ein Gebet.



Einer der zahlreichen Totengräber im «Tal des Friedens» ist Ibrahim al-Hammani. Er und seine vier, fünf Mitarbeiter bestatten acht bis zehn Tote pro Tag. «Ein erfahrener Totengräber hebt ein Grab von Hand in einer Stunde aus», erzählt Alex Kühni. Dabei würden Pickel, Spaten und Schaufeln verwendet. Das sei eine extrem körperliche Arbeit, die vor allem von jungen Männern erledigt werde und nicht allzu lange gemacht werden könne. Viele Totengräber litten nach ein paar Jahren an Rückenschmerzen.


Ibrahim al-Hammani führt ein Familienunternehmen, das in fünfter Generation seit 1895 in Wadi al-Salam Bestattungen durchführt. Er hat zwei Lieblingsplätze auf dem Friedhof: die Grabstätte seines Vaters und den Grabplatz, den er für sich selber reserviert hat. «Das Foto davon hat er mir stolz auf seinem Handy gezeigt», sagt Alex Kühni. Bei seiner Reise hat er generell einen unverkrampften Umgang der Leute mit dem Tod erlebt. Und Eindruck machte ihm, dass die meisten Angehörigen keine Einwände hatten, wenn er die Beisetzung ihrer Verstorbenen fotografieren wollte.
Feilschen um Preise bei der Beisetzung
In der Stadt der Toten ist das Geschäft mit dem Tod sehr präsent. Hier sind alle möglichen Unternehmen und Dienstleister angesiedelt, wie Alex Kühni erzählt. Etwa Landverkäufer, Maurer, Ziegelbrenner, Leichenwagenfahrer, Totenwäscher, Grabsteinhersteller, Grabwasserverkäufer und Totengräber.
Die Preise für die Bestattungsdienstleistungen sind nicht fix, sondern Verhandlungssache. Das führt dann gelegentlich auch zu «grotesken Situationen», wie der 39-jährige Fotoreporter berichtet. So zum Beispiel, als ein Bestatter und die Familienangehörigen des Toten schon lautstark über Geld gestritten hätten, während das Grab noch mit Erde bedeckt worden sei. Ein angeblich schlechter Platz auf dem Friedhof kann ein Anlass für Streitigkeiten vor Ort sein und für die Angehörigen der bestatteten Person ein Grund, einen tieferen Preis zu verlangen.
Die Gräber sind wie Immobilien, deren Preis sich nach Lage und Quadratmetern bemisst. Eine Beerdigung kostet umgerechnet rund 70 US-Dollar. Der Preis für das Grab beträgt durchschnittlich 250 bis 300 US-Dollar, je nach Standort kann er bei 800 US-Dollar oder mehr liegen.
Einfache Grabstelen sind aus gebrannten Lehmziegeln gemauert. Sie tragen schlichte Inschriften. Da und dort sind Koranverse zu sehen, auch Fotos von meist jungen Männern. Die Gräber von wohlhabenden Familien sind augenfällig: Die Grabdenkmäler sind höher und breiter, sie beanspruchen mehr Platz. Zudem gibt es Extravagantes. Viele grössere Grabstätten, so erzählt es Alex Kühni, haben solarbetriebene Lautsprecher, aus denen den Verstorbenen in Endlosschleife der Koran vorgelesen wird.
Friedhof dient auch als Waffenversteck
Hinter der geballten Religiosität werden auch sehr weltliche Interessen verfolgt. Als schiitische Hochburg ist Najaf sehr iranisch geprägt. Laut Alex Kühni ist es ein offenes Geheimnis, dass der iranische Geheimdienst und iranische Milizen Teile des Friedhofs kontrollieren. So werden Grabkammern auch als Waffenverstecke genutzt. Und bei der Schlacht um Najaf vom August 2004 im Zuge der Irak-Invasion der USA hatten Milizen um den Schiitenführer Muqtada al-Sadr Tunnelsysteme unter dem Friedhof genutzt, wie einst die Vietcong im Vietnamkrieg gegen die Amerikaner.
Die politische Grosswetterlage hat zeitweise massgeblichen Einfluss auf die Zahl der Beisetzungen in Wadi al-Salam. Der Irak ist ein Land, das seit Jahrzehnten viel Gewalt, Krieg und Tod erlebt hat.
Am meisten Arbeit hatten die Bestatter in den 1980er-Jahren während des Krieges zwischen dem Irak und dem Iran. Viel Arbeit bescherte ihnen auch die Schlacht um Mosul von 2016/17, bei der eine internationale Koalition unter Führung der USA gegen den Islamischen Staat (IS) kämpfte. Zuletzt war es die Corona-Pandemie, die die Zahl der Begräbnisse in die Höhe trieb.
Separater Friedhof für Corona-Tote
Zunächst hatten die Behörden von Najaf mit dem Bau eines separaten Friedhofs für Corona-Tote begonnen – aus Gründen der Sicherheit angesichts der neuartigen Krankheit. Im Frühling 2020 fanden erstmals Begräbnisse statt. Hier mussten die Angehörigen jedoch auf die gewohnten Abschiedsrituale verzichten. Inzwischen wird das «Neue Tal des Friedens» kaum noch genutzt. Bilder zeigen einen Friedhof mit wenigen Gräbern.


Unzählige Leichname sollen in nächtlich-heimlichen Aktionen von ihren Angehörigen wieder ausgegraben und im alten Wadi al-Salam nochmals bestattet worden sein. Corona ist mit einem Stigma behaftet. «Das ist ein Tabuthema», hat Alex Kühni in seinen Gesprächen mit Angehörigen von Beigesetzten festgestellt. Stirbt ein Mensch an Covid-19, wird das also lieber verschwiegen.
Die allermeisten Trauerfamilien wollen ihre Verstorbenen im originalen «Tal des Friedens» bestattet haben. Für schiitische Muslime ist Wadi al-Salam der beste Ort für die ewige Ruhe.

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