Auftakt zur HerbstsessionDer ganz normale «Plexi-Wahnsinn»
Das Parlament ist zurück im Bundeshaus. Während man sich im Nationalrat über die Plexiglas-Schutzboxen nervt, kippt der Ständerat eine heilige Tradition.
Ist es ein Spiegelkabinett? Eine Kunstinstallation? Ein Callcenter? Oder ganz einfach der «Plexi-Wahnsinn», wie es BDP-Nationalrat Lorenz Hess auf Twitter ausdrückt?
Erstmals seit Beginn der Corona-Pandemie kehrt die Bundesversammlung am Montag ins Bundeshaus zurück. Doch Freude über die Rückkehr ist nicht zu spüren. Die Gefühlslage bei den Politikern changiert zwischen aufgekratzter Belustigung und blankem Entsetzen.
Grund für die Aufregung sind die Plexiglas-Boxen, die über die Sommerferien an jedem Sitzplatz installiert wurden (Kostenpunkt: 200’000 Franken). Sie sollen sicherstellen, dass im Falle einer Corona-Infektion eines Ratsmitglieds nicht das gesamte Parlament in Quarantäne gehen muss.
Zum Sessionsauftakt fällt es den Bundespolitikern aber schwer, die epidemiologischen Vorteile der Installation zu würdigen. Es überwiegen die praktischen Nachteile. Die Beengung. Die eingeschränkte Sicht. Die Isolation, ja, die nackte Entmenschlichung.
Tierische Vergleiche
Er fühle sich da drin «wie ein Affe im Käfig», sagt zum Beispiel SVP-Nationalrat Erich Hess. Auch Nationalratspräsidentin Isabelle Moret kommt nicht umhin, Parallelen zur Tierhaltung zu ziehen. Allerdings weiss die Chefin im Ratssaal auch, dass Jammern nichts bringt: «Wir täten gut daran, uns an die Aquarien aus Plexiglas zu gewöhnen.»
Mit ihnen leben – das heisst nicht zuletzt, sich behutsamer, ja, mit katzenhafter Eleganz durch den Saal zu bewegen. Die ersten, die das merken, sind Simon Stalder (CVP, UR) und Marianne Streiff (EVP, BE). Kurz vor Sitzungsbeginn versucht Stalder, einen leuchtgelben Velokurierrucksack umgehängt, sich zu seinem Pult vorzukämpfen. Es ist eng, es kommt zu Berührungen, zu hastigen Bewegungen. Da kracht die Plexiglas-Box auf dem Pult von Marianne Streiff plötzlich zu Boden und zerbricht. «Isch doch es Gfotz», entfährt es Streiff später.
Aber es können halt auch nicht alle so weitsichtig sein wie Sandra Sollberger. Die SVP-Frau, die wie Marianne Streiff ein Pult besetzt, das an den Gang grenzt, hat ihren Plexiglas-Verschlag prophylaktisch mit schwarzen Vogelschutz-Aufklebern versehen. «Als ich letzte Woche den Nationalratssaal besuchte, wusste ich sofort, dass das nötig sein würde», erklärt Sollberger. Woher dieser Instinkt? Sie sei Hobby-Ornithologin, sagt Sollberger, schütze auch daheim jedes grössere Fenster mit Aufklebern gegen Kollisionen. Politiker, lehrt uns das Beispiel, sind auch nur Vögel.
Direkt ins Spital
Auch die Laufwege innerhalb des Nationalratssaales müssen neu eingeübt werden. Statt nur eines gibt es neu drei Rednerpulte, was einen flüssigen Ratsbetrieb ermöglicht. Es erfordert aber, dass sich die Politiker an die Anweisungen von Ratspräsidentin Moret halten. Konkret: Die drei Rednerpulte sind von 1 bis 3 nummeriert, die Reihenfolge geht von West nach Ost. Und alle Rednerpulte sind «von Westen her» anzusteuern und «in östlicher Richtung» wieder zu verlassen, wie Moret zu Sitzungsbeginn erklärt.
Eine weitere Anweisung: Falls sich jemand während der Sitzung krank fühlt, muss er sich sofort an einen Weibel wenden. Dieser, so Moret, werde ihm dann den Weg zum Inselspital weisen. Wobei ortskundige natürlich wissen, dass sich das Inselspital bei Pult Nummer 1 geradeaus in westlicher Richtung befindet.
Und wie hat es unser Parlament mit den Masken? Nun, es herrscht «eine krasse Zweiklassengesellschaft» (Jacqueline Badran). Während Sicherheitsleute und sogar die Weibel im Bundeshaus eine Maske tragen müssen, ist es den Politikern freigestellt. Und wie geht das Parlament mit dieser Freiheit um? Wenig überraschend ist man links tendenziell zurückhaltender, während insbesondere die SVP die Freiheit in vollen Zügen auskostet.
Nackte Tatsachen
Während also vieles im Bundeshaus umständlicher geworden ist, gibt es auch einen kleinen und umso erstaunlicheren Gegentrend. Der Ständerat, Hüter der Traditionen, hat seine Bekleidungsvorschriften für Frauen gelockert, wie Hans Stöckli um 15.15 Uhr feierlich verkündet: «Schulterfrei ist möglich.»
Es ist eine kleine Revolution. Erst vor vier Jahren wurde eine NZZ-Redaktorin aus dem Saal geworfen, weil sie zu viel Schulter zeigte, was das Konzentrationsvermögen vieler Standesherren ungebührlich einschränkte. Nun also wird es freizügiger.
Möglich ist allerdings, dass die Corona-Situation den Ständeräten den Entscheid erleichtert hat. Es mag jetzt nackte Schultern geben im heiligen Saal. Aber sichtbar werden sie frühestens, wenn Corona besiegt und das Spiegelkabinett weggeräumt ist. Das dürfte noch dauern.
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