70 Jahre UNO-Flüchtlingswerk UNHCR«Der Flüchtlingsbegriff ist sehr eng gefasst»
Die Situation der vorläufig Aufgenommenen in der Schweiz müsse verbessert werden, sagt Anja Klug, Chefin des UNHCR-Büros Schweiz. Im Interview beurteilt sie auch das neue EU-Migrationspaket und dessen Folgen für die Schweiz.
Das UNO-Flüchtlingswerk UNHCR ist vor 70 Jahren gegründet worden. Ist das runde Jubiläum ein Grund zum Feiern angesichts des Flüchtlingselends in vielen Teilen der Welt?
Nein. Mir wäre es lieber, wenn es die UNO-Flüchtlingsorganisation nicht mehr bräuchte. Doch leider ist das Gegenteil der Fall. Die Zahl der Flüchtlinge nimmt laufend zu. Heute sind rund 80 Millionen Menschen auf der Flucht. Dies ist eine Herausforderung, die die Staaten nur gemeinsam bewältigen können. Hier wäre eine verbesserte internationale Zusammenarbeit notwendig. In jüngster Zeit gab es ermutigende Entwicklungen. So verabschiedete die UNO-Generalversammlung vor zwei Jahren den Globalen Pakt für Flüchtlinge. Auch in der EU gibt es mit dem Migrationspaket Ansätze für mehr gemeinsame Verantwortung.
Die Schande von Moria, dem überfüllten und dann abgebrannten Flüchtlingslager auf Lesbos, steht für das Versagen der EU. Glauben Sie wirklich, dass das neue Migrationspaket Besserung bringt?
Klar, es ist momentan noch illusorisch, dass alle EU-Staaten den gleichen Beitrag leisten. Das Migrationspaket ist aber ein ernsthafter Versuch, sie zum gemeinsamen Handeln zu verpflichten, wobei Interessen und Befindlichkeiten der einzelnen Staaten berücksichtigt werden. Jeder muss einen Beitrag leisten, aber es gibt ein Menü von Optionen, aus dem man auswählen kann, ob der Beitrag in der Übernahme von Flüchtlingen besteht, aus finanzieller Unterstützung oder aus Unterstützung bei der Rückkehr abgewiesener Asylsuchender. Das EU-Migrationspaket wird auch Folgen für die Schweiz haben. Denn es enthält einige Vorschläge zur Änderung von Rechtsinstrumenten, die für die Schweiz verbindlich sind, zum Beispiel des Dublin-Systems. Die Schweiz kann sich ausserdem an den Solidaritätsmechanismen beteiligen, muss dies aber nicht tun.
Die Schweiz gehört zu den wenigen Ländern, die sich nach dem Brand in Moria bereit erklärt haben, unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen. Wo steht nun diese Hilfsaktion?
Schon vor dem Brand wurden Kinder aufgenommen, die Familie in der Schweiz hatten, bisher insgesamt 54. Im laufenden Monat sollen weitere 34 Minderjährige kommen, teils mit, teils ohne familiäre Verbindungen. Das UNHCR begrüsst dies und ruft dazu auf, auch andere besonders verletzliche Personen aus Griechenland aufzunehmen.
In manchen Ländern Europas hat die Flüchtlingskrise von 2015 heftige Abwehrreflexe ausgelöst. Inwiefern ist es schwieriger geworden, Verständnis für den Schutz von Flüchtlingen zu wecken?
Wenn Flüchtlinge von gewissen Parteien und Kreisen politisch instrumentalisiert und als Bedrohung dargestellt werden, rückt in den Hintergrund, dass es um schutzbedürftige Menschen geht. Oft ist es aber bloss eine laute Minderheit, die Stimmung gegen Flüchtlinge macht.
Völlig unbegründet ist die Befürchtung nicht, dass nicht-integrierbare Menschen oder sogar Extremisten nach Europa kommen oder dass Flüchtlinge sich hier radikalisieren.
Die Befürchtung ist verständlich. Es gibt jedoch Massnahmen, um das möglichst zu verhindern. Bei der Prüfung von Asylgesuchen werden Sicherheitsaspekte sorgfältig geprüft. Was die Radikalisierung von Menschen betrifft, die sich schon im Land befinden, ist Integration das beste Rezept dagegen. Dafür setzt sich das UNHCR ein. Flüchtlingsrecht ist kein Schutz für Terroristen und andere Verbrecher. Diese können einem ordentlichen Strafverfahren zugeführt oder ausgewiesen werden.
Wie beurteilen Sie die generelle Stimmung in der Schweizer Bevölkerung gegenüber Flüchtlingen?
In der Schweiz gibt es ein breites Verständnis für die Anliegen des Flüchtlingsschutzes. Gerade nach den Fluchtbewegungen von 2015 wandten sich viele Nichtregierungsorganisationen und Privatpersonen an das UNHCR und boten ihre Hilfe an. Damals kamen sehr viele Syrer. In den Jahren vor 2015 war in öffentlichen Debatten oft von Asylmissbrauch die Rede. Bei den Flüchtlingen aus Syrien war unbestritten, dass sie schutzbedürftig sind. Es war dann klar, dass man nicht mehr von Asylmissbrauch sprechen konnte. Generell gesehen, macht die Schweiz in der Flüchtlingspolitik vieles richtig.
Was meinen Sie damit?
In den letzten Jahren zum Beispiel die Asylreform, die die Schweizer Bevölkerung 2016, ein Jahr nach der sogenannten Flüchtlingskrise, mit 67 Prozent der Stimmen angenommen hat. Das Ziel dieser Reform – schnelle und zugleich faire Verfahren – ist im Sinne des UNHCR. Bei der Umsetzung wären allerdings noch Verbesserungen möglich und nötig. Sorge bereitet uns aber vor allem die vorläufige Aufnahme. (Aktuell leben rund 50’000 vorläufig Aufgenommene in der Schweiz, Anm. d. Red.)
Was bemängeln Sie am Status der vorläufig Aufgenommenen?
Dabei handelt es sich in der Regel um Flüchtlinge aus Kriegs- und Gewaltsituationen, die den gleichen Schutzbedarf wie andere Flüchtlinge haben. Sie können nicht in ihr Heimatland zurückkehren, da sie dort verfolgt beziehungsweise an Leib und Leben bedroht sind. In vielen Staaten werden solche Menschen als Flüchtlinge anerkannt. In anderen Staaten erhalten sie einen Schutzstatus, der ihnen in vielen Bereichen die gleichen Rechte wie Flüchtlingen gewährt. In der Schweiz dagegen wird der Flüchtlingsbegriff viel zu restriktiv ausgelegt, und es gibt – anders als in allen anderen EU- und assoziierten Staaten – keinen subsidiären Schutzstatus.
Welche Nachteile haben vorläufig Aufgenommene in der Schweiz?
Sie leben jahrelang in einem Schwebezustand, können keiner Arbeit nachgehen und sich nicht integrieren, obwohl sie dauerhaft bleiben werden. Das ist weder im Interesse der Betroffenen noch des Aufnahmelandes. Des Weiteren müssen sie drei Jahre lang warten, bevor sie ein Gesuch um Familiennachzug stellen können. Das ist eine sehr harte Regelung. Oft denken wir in den Kategorien «wir» und «sie». Es sind «sie», die Flüchtlinge, die drei Jahre lang warten müssen, um ein Gesuch auf Familiennachzug stellen zu können. Doch wie wäre es, wenn «wir» unsere Kinder, Eltern oder Geschwister drei Jahre lang nicht sehen könnten? In den nächsten Tagen lässt das UNHCR gemeinsam mit dem Roten Kreuz einen TV-Spot ausstrahlen, der dazu anregen soll, darüber nachzudenken.
Der Nationalrat behandelt am Mittwoch eine Vorlage, bei der es um vorläufig Aufgenommene geht. Diesen will der Bundesrat das Reisen ins Ausland grundsätzlich verbieten. Das UNHCR lehnt das ab – mit welcher Begründung?
Kürzlich sprachen wir mit einem Syrer, der seinen kranken Vater in Deutschland besuchen möchte. Er ist in grosser Sorge, dass solche Besuche künftig nicht mehr möglich sein werden. Bereits heute sind Auslandsreisen eine komplizierte Angelegenheit. Nötig ist eine Bewilligung des Staatssekretariats für Migration. Das geplante Reiseverbot erlaubt Reisen ins Ausland nur noch, wenn «besondere persönliche Gründe» vorliegen. Das Recht auf Reisefreiheit ist Bestandteil des Menschenrechts auf Bewegungsfreiheit. Keiner von uns würde darauf verzichten wollen.
Auslöser der Gesetzesvorlage waren Medienberichte, wonach vor allem eritreische Flüchtlinge Heimaturlaub machten, um etwa Hochzeiten zu besuchen. Gibt es immer noch solche Fälle?
Reisen ins Herkunftsland sind jetzt schon ausgeschlossen. Anders als ein allgemeines Reiseverbot kann ein solches Verbot gerechtfertigt sein. Ausnahmen gibt es in eng begründeten Einzelfällen wie zum Beispiel bei Todesfällen in der Familie. Klar, es hat bestimmt auch Reisen nach Eritrea gegeben, die nicht erlaubt gewesen wären. Es gibt aber keine Zahlen oder Fakten, die zeigen würden, dass eine Änderung der jetzigen Praxis erforderlich ist. Hier geht es um eine vor allem politisch motivierte Debatte.
Flüchtlinge mit Kriegs- und Gewalterfahrungen sind oft traumatisiert. Erfahren sie in der Schweiz einen angemessenen Umgang?
Das ist ein Thema, das uns Sorgen bereitet. Es ist nicht gewährleistet, dass Asylsuchende mit besonderen Bedürfnissen, wie wir sagen, frühzeitig identifiziert und gezielt unterstützt werden. Das wäre sehr wichtig. Damit die Betroffenen die notwendige Hilfe erhalten, aber auch, weil besondere Bedürfnisse relevant für den Ausgang des Asylverfahrens sein können.
Medienberichten zufolge dürfen Beamte aus China in die Schweiz kommen, um chinesische Staatsbürger zu identifizieren, die hier um Asyl gebeten haben. Das stösst auf Kritik. Was sagt das UNHCR dazu?
Diese Berichte beruhen wohl auf einem Missverständnis. Hier geht es um die Abklärung der Identität mutmasslicher chinesischer Staatsangehöriger, die nach einem negativen Asylbescheid die Schweiz verlassen müssen. Das ist ein übliches Vorgehen bei Wegweisungen – und so ist es auch mit vielen weiteren Herkunftsstaaten von Asylsuchenden vereinbart. Ein abgewiesener Asylsuchender kann nur dann in ein Land zurückgeschickt werden, wenn dessen Behörden ihn als Staatsangehörigen anerkannt haben. Personen, die bereits einen Schutzstatus haben oder noch im Asylverfahren stehen, sind jedoch tabu für ausländische Beamte. Und für Tibeter ist eine Wegweisung nach China ausgeschlossen.
Gelten müsste das auch für Uiguren, die in China in Zwangslager gesteckt werden.
Personen, welchen im Herkunftsland Verfolgung droht, müssen natürlich Schutz erhalten. Das UNHCR setzt sich dafür ein, dass sorgfältig abgeklärt wird, ob jemand schutzbedürftig ist. Dazu gehört aber auch, dass nicht schutzbedürftige Menschen kein Asyl erhalten.
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