Versteckte GoldgrubeDer erfolgreichste Comic-Verlag der Welt
Millionen von Menschen nutzen Webtoon täglich. Die Online-Plattform hat mit ihrem riesigen Angebot alle traditionellen Verlage überholt.
Der Comic hat einen weiten Weg hinter sich. Schon lange bevor die Schrift erfunden wurde, erzählten wir Menschen Geschichten mithilfe von Bildern. Aus urzeitlichen Höhlenmalereien wurden Hieroglyphen und schliesslich Buchstaben. Moderne Comics führen diese ursprüngliche Art des Erzählens weiter und vereinen Schrift mit Bild. Mittlerweile sind die bunten Bildchen längst in der Kunstszene und Museen angelangt – und im Internet.
Eine der Online-Plattformen für Nachwuchskünstler und Comicliebhaber ist das koreanische Unternehmen Webtoon: Auf einer Website und via App wird eine grosse Menge an Comics bewirtschaftet. Hochladen kann jeder, der will. Das Lesen der Comics ist gratis. Handelt es sich dabei also um eine ernst zu nehmende Konkurrenz für das traditionelle Comicgeschäft?
Über 10 Millionen Nutzer pro Tag
Tatsächlich hat die Internetplattform bereits alle traditionellen Verlage überholt. Webtoon ist nicht nur der erfolgreichste digitale Verlag der Welt, sondern der meistgelesene Comicverlag überhaupt.
2004 von der Naver Corporation in Südkorea ins Leben gerufen, wurde die App zehn Jahre später weltweit auf Englisch gestartet. Die Nutzerbasis von Webtoon wuchs nach der globalen Einführung des Dienstes rasant an: Mehr als 10 Millionen Menschen nutzen die Plattform heute täglich – die meisten davon via Mobiltelefon. Seit vergangenem Jahr ist das Internetportal auf mehr als 100 Milliarden Ansichten jährlich angewachsen.
In Europa ist Webtoon trotzdem nach wie vor vergleichsweise unbekannt. Unter den Top 100 der meistgelesenen Comics finden sich neben einer Vielzahl amerikanischer und asiatischer Künstler nur vereinzelt spanische und französische Zeichner. Nach Schweizer Autoren muss man länger suchen.
Scrollen statt blättern
Eine von ihnen ist die 25-jährige Adina Ziebart aus Winterthur. Im Rahmen ihres Illustrationsstudiums an der University of Dundee zeichnete sie den Webcomic «Living that Student Life», den sie mit sieben Folgen auf Webtoon veröffentlichte.
«Ich fand es sehr angenehm, auf Webtoon zu posten. Man kann gut mit den weissen Flächen zwischen den Einzelbildern spielen und damit anders Spannung aufbauen als in traditionellen Comics», sagt Ziebart.
Während man in traditionellen Comicbüchern blättert, scrollt man auf Webtoon von oben nach unten durch die bebilderten Geschichten. Das erlaubt dem Künstler, die Lesegeschwindigkeit zu kontrollieren und zu bestimmen, was auf dem Bildschirm zu sehen ist und was dem Leser verborgen bleibt. Dadurch kann online nach jedem Bild mit einem Cliffhanger gespielt werden, in traditionellen Comics hingegen erst am Ende einer Doppelseite.
Bei der grossen Anzahl an Comics – insgesamt sind es über eine Million – ist es für Künstler allerdings schwer, eine Leserschaft zu generieren: «Webtoon macht einem den Anfang sehr leicht. Es gibt zum Beispiel das Tool ‹Creator 101›, welches ansehnlich erklärt, wie man die ersten Schritte machen muss», sagt Adina Ziebart und fügt hinzu: «Wenn man aber auf der Startseite landen will, muss man sehr viel Zeit investieren. Es ist schwierig, zwischen den vielen anderen Comics aufzufallen.»
Mythologie neu verpackt
Schon auf der Startseite von Webtoon findet sich eine Vielzahl an unterschiedlichen Comics: meistgelesene, personalisierte Vorschläge, tägliche Empfehlungen. «Ich finde es erstaunlich, wie gross die Auswahl auf Webtoon ist und dass das alles kostenlos zur Verfügung gestellt wird. Es gibt für jeden Geschmack und in jedem Genre etwas: Romantik, LGBTQ, Humor, Krimis – eigentlich alles», sagt Adina Ziebart, welche die Plattform auch als Leserin oft und gerne nutzt.
Auf dem ersten Platz der Meistgelesenen thront zurzeit «Lore Olympus» von Rachel Smythe, welche die Geschichte von Persephone und Hades aus der griechischen Mythologie holt und sie neu verpackt. Der Comic erzählt von den Freundschaften, Lügen und wilden Partys der Götter – und von verbotener Liebe.
Smythes Comic erreichte 2018 praktisch über Nacht enorme Bekanntheit auf der Plattform: Bis heute verbucht er über 300 Millionen Ansichten und 3,9 Millionen Abonnenten. Wie einige Webcomics vor ihm (beispielsweise «True Beauty» oder «Tower of God»), soll auch «Lore Olympus» bald als Serie adaptiert werden – in diesem Fall von Netflix.
Comic-Wettbewerb
Wer es Rachel Smythe und Co. nachmachen will, hat aktuell die Möglichkeit, am Kurzgeschichten-Wettbewerb bei Webtoon teilzunehmen, bei welchem man knapp 15’000 Franken gewinnen kann. In den Kategorien «Herz» oder «Hirn» kann noch bis am 30. Juni eine illustrierte Kurzgeschichte eingereicht werden.
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