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Interview mit Ökonomie-Professor
«Der Bundesrat fährt eine Hochrisiko-Strategie»

Marius Brülhart sagt, die Maskenpflicht habe ein gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis, die Einreisequarantäne hingegen ein schlechtes.
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Herr Brülhart, rund 50 Ökonomen plädieren in einem offenen Brief an den Bundesrat für einen zweiten Lockdown. Haben Sie auch unterzeichnet?

Als Mitglied der Science Taskforce unterschreibe ich keine offenen Briefe. Aber ich teile die Einschätzung, dass der Bundesrat aktuell eine Hochrisikostrategie fährt. Es gibt einen Hoffnungsschimmer, dass sich das Wachstum der Fallzahlen verlangsamt und wir die Kurve gerade noch kriegen. Aber wir segeln hart am Wind.

Man könnte also sagen: Der Bundesrat hat gerade eine gigantische Wette am Laufen?

Ja, das könnte man so sagen. Verliert er, heisst das, dass die Spitäler nicht mehr nachkommen mit der Versorgung von Patienten. Das wäre schlimm, in erster Linie für die Betroffenen, aber auch für das Vertrauen der Bevölkerung und den Ruf unseres Landes.

Gewinnt er hingegen, steht die Schweiz am Ende der Pandemie wirtschaftlich besser da als die meisten anderen Länder Europas.

Nicht unbedingt. Wir haben in der ersten Welle gesehen, dass die Strenge der Massnahmen in der Akutphase der Pandemie für die Wirtschaft kaum eine Rolle spielt. Ähnlich wie die Schweiz jetzt, erliess Schweden damals weniger starke Einschränkungen als seine Nachbarländer. Anschliessend stand das Land wirtschaftlich gleich schlecht da wie Norwegen und Dänemark, hatte aber wesentlich mehr Tote zu beklagen.

Ist diese Formel auch auf die zweite Welle anwendbar?

Die Spezialisten aus der Medizin wissen heute mehr über das Virus, können es besser behandeln. Aber die Krankheit bleibt brandgefährlich, und wir haben noch keine Wunderwaffe. Daher ist die Ausgangslage nicht grundlegend anders. Wenn das Virus grassiert, geht der Konsum so oder so zurück, und je länger es wütet, desto länger dauert auch die Wirtschaftsflaute.

«Es wäre unverantwortlich, angesichts der Jahrhundertpandemie und ihrer Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft den staatlichen Geldhahn nicht vorübergehend weit zu öffnen.»

Finanzminister Ueli Maurer sagte, die Schweiz habe kein Geld für einen erneuten Lockdown.

Das ist, so nehme ich jetzt einmal an, eine rhetorische Übertreibung. Natürlich sollte man kein Geld aus dem Fenster werfen – aber die Staatsverschuldung ist im Moment wirklich nicht unser grösstes Problem. Im Gegenteil: Es wäre unverantwortlich, angesichts der Jahrhundertpandemie und ihrer Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft den staatlichen Geldhahn nicht vorübergehend weit zu öffnen.

Dann bliebe noch der Zielkonflikt: Wirtschaft versus Gesundheit.

Wir müssen unterscheiden: In einer Phase mit exponentiellem Anstieg der Ansteckungen, wie wir sie jetzt wieder erleben, kann es nur ein Ziel geben: die Pandemie in den Griff zu bekommen. Das ist auch im ureigensten Interesse der Wirtschaft. Anders verhält es sich in den ruhigeren Zeiten innerhalb der Pandemie. Zwar gilt auch dann, den Deckel auf dem brodelnden Virus-Topf zu halten. Allerdings sollte in solchen Phasen sorgsam abgewogen werden zwischen der epidemiologischen Wirksamkeit und den wirtschaftlichen Kosten verschiedener Massnahmen.

Fürchten Sie sich nicht vor einem Jo-Jo-Effekt? Dass wir wieder an denselben Punkt kommen, sobald wir die einschneidenden Massnahmen lockern?

Selbstverständlich ist jedes Auf und Ab ungünstig für die Wirtschaft. Aber wir könnten aus unseren Erfahrungen gelernt haben. Ein Grund, weshalb wir jetzt nochmals so radikal dahintermüssen, sind Versäumnisse beim Ausbau von Contact-Tracing und Testkapazitäten. Auch die Zulassung von grösseren Veranstaltungen war rückblickend wohl nicht ideal. Das Ziel der Behörden muss sein, die Massnahmen so auszutarieren, dass man sie nicht immer wieder anpassen muss. Angesichts der Unberechenbarkeit der Pandemie wird dies allerdings kaum gänzlich erreichbar sein.

Glauben Sie, dass der Bundesrat auf Druck der grossen Wirtschaftsverbände so schnell geöffnet hat?

Dass es Einflussversuche und Einflussnahmen gibt, gehört zum Wesen unseres Politiksystems. Wer dem Bundesrat was und wie intensiv eingeflüstert hat, entzieht sich meiner Kenntnis.

Namhafte Ökonomen loben den Bundesrat für seinen Mut, nicht mit den Nachbarländern mitzuziehen. Wer hat jetzt recht?

Auch unter den Ökonomen besteht keine Pensée unique. Und Querdenker sind für die Medien oftmals spannend. Der offene Brief an den Bundesrat und viele andere Positionsbezüge der letzten Monate zeigen aber, dass die überwältigende Mehrheitsmeinung eine andere ist. Sie lautet, dass es in akuten Krisenzeiten kein Entweder-oder zwischen Wirtschaft und Gesundheit gibt. Zudem herrscht auch breiter Konsens darüber, dass der Staat nun Lohn- und Umsatzausfälle ziemlich grosszügig kompensieren sollte.

Eine unkonventionelle Idee lancierte der Ökonom Martin Janssen in der NZZ: Wer einkaufen geht, Bus fährt oder Freunde trifft, soll dafür Corona-Punkte bekommen. So sollen die Bürger ihre Kontakte und ihr Ansteckungsrisiko selber beschränken.

Es gibt viele Ideen, die auf den ersten Blick reizvoll wirken, letztlich aber am Machbarkeitstest scheitern.

«Ein positives Beispiel ist die Maskenpflicht. Sie kostet uns volkswirtschaftlich so gut wie nichts.»

Wie also gelingt es Ihrer Meinung nach, die nächsten Monate oder sogar Jahre mit diesem Virus zu leben?

Es ist tatsächlich eine Eigenart dieser Krise, dass man keine Ahnung hat, wie lange sie noch dauert. Es besteht die berechtigte Hoffnung auf eine Impfung im nächsten Jahr, aber es könnte auch noch zwei oder drei Jahre gehen. Wenn es uns einmal gelungen ist, wieder aus dem Akutmodus herauszukommen, müssen wir uns also an die Feinjustierung der bisherigen Massnahmen machen, inklusive Kosten-Nutzen-Rechnung.

Woran denken Sie?

Ein positives Beispiel ist die Maskenpflicht. Sie kostet uns volkswirtschaftlich so gut wie nichts. Gewisse Anbieter haben sogar einen Nachfragezuwachs vermeldet, da sich die Menschen wieder sicherer wähnen, wenn alle eine Maske tragen. Ein negatives Beispiel ist die Einreisequarantäne, die wirtschaftlich kostspielig, aber bislang offenbar nicht besonders treffgenau war.

Die Westschweizer Kantone sind ja faktisch alle wieder im Lockdown. Was hätte dafür gesprochen, stattdessen einen nationalen Lockdown zu verhängen?

Wären im Oktober landesweit schärfere Massnahmen verordnet worden, müssten wir jetzt wohl nicht um ausreichende Spitalkapazitäten bangen. Wir haben leider Zeit verloren, während Bund und Kantone die heisse Kartoffel hin- und herschoben. Manche Kantone zögerten offenbar mit Massnahmen, die etwas kosten, da sie für den schlimmsten Fall den Bund im Rücken wussten. Der Bund hingegen hielt sich an die gesetzliche Vorgabe, dass Pandemiebekämpfung seit Ende der ausserordentlichen Lage wieder in erster Linie Sache der Kantone ist.

Wie gut hilft der Bund den Betroffenen im Moment?

Die Kompensation von Lohnausfällen über Kurzarbeit und EO läuft weiterhin gut. Corona-gebeutelte Unternehmen müssen aber auch andere Kosten stemmen. Die dafür aktuell vorgesehene Härtefallregelung wurde im Sommer konzipiert, als man davon ausging, dass nur noch sporadisch Firmen Probleme bekommen werden. Inzwischen geraten wohl viel mehr Betriebe in existenzbedrohende Situationen, als man damals erwartet hatte. Am effizientesten schiene mir daher eine rasche Neuauflage der staatlich verbürgten Covid-19-Kredite. Je nach Dauer und Schwere der Krise könnte auf Rückzahlung eines Teils dieser Darlehen dereinst verzichtet werden. So ungefähr nach dem Motto: Wir sind zur Stelle, wenns brennt, und rechnen dann ab, wenn sich der Rauch verzogen hat.

«Beim gegenwärtigen Stand kann davon ausgegangen werden, dass die Corona-Schulden über die nächsten Jahre wieder wegschmelzen, ohne dass man Steuern erhöhen muss.»

Bereits wurde die Idee einer Steuer für die Krisengewinner laut. Onlineshops oder Pharmaunternehmen müssten einen Beitrag an die Bewältigung dieser Krise leisten, weil sie während der Corona-Zeit gut verdient haben. Was halten Sie davon?

Aufgrund unserer nach wie vor kerngesunden Staatsfinanzen halte ich das nicht für nötig. Der Bund hat in den letzten Jahren Jahr für Jahr Überschüsse ausgewiesen, und auch die meisten Kantone sind kaum verschuldet. Beim gegenwärtigen Stand der Dinge kann davon ausgegangen werden, dass die Corona-Schulden über die nächsten zehn, fünfzehn Jahre wieder wegschmelzen, ohne dass man Steuern erhöhen muss. Bei den gegenwärtigen Negativzinsen lohnt es sich aus der Sicht des Staatshaushalts sogar, Schulden zu machen.

Wir sprachen nun vor allem über die Wirtschaft. Doch was ist mit den Menschen, die in der Abschottung depressiv werden oder häuslicher Gewalt ausgesetzt sind?

Das ist ein wichtiger, aber schwer messbarer Aspekt. Auch hier müssen in einer Akutphase andere Massstäbe gelten: Es macht keinen Sinn, zu vergleichen, ob es den Menschen unter verordneten Einschränkungen psychisch schlechter geht als in normalen Zeiten. Der Vergleich muss lauten: Geht es ihnen mit den Einschränkungen schlechter als ohne – wenn die Alternative ist, dass das Virus grassiert und man regelmässig Schreckensmeldungen von überfüllten Spitälern liest? Unsere Auswertung von Anrufen bei der Dargebotenen Hand deutet darauf hin, dass der Sorgenpegel der Bevölkerung, abgesehen von der Infektionsangst, diesen Frühling im Vergleich zum Vorjahr nicht gestiegen ist. Anrufe wegen häuslicher Gewalt waren sogar rückläufig. Unsere Analysen zeigen auch, dass materielle Existenzängste der Betroffenen durch grosszügige staatliche Kompensationen abgefedert wurden.

Hätten Sie mir in diesem Interview andere Antworten gegeben, wenn Sie nicht Teil der wissenschaftlichen Taskforce des Bundes wären?

Ich wüsste sicher weniger über die Pandemie und würde mich daher öffentlich auch weniger äussern. Aber wenn Sie meine ökonomische Beurteilung der Lage meinen: nein.