Interview zur Propaganda der Nazis«Den Musikern war bewusst, dass sie für ein Regime spielten, das auf ihre Vernichtung hinarbeitete»
Der Schweizer Autor Demian Lienhard erzählt in seinem Roman «Mr. Goebbels Jazz Band» von der perfiden NS-Propaganda. Und zeigt, dass sich die Mechanismen bis heute nicht gross verändert haben.
Herr Lienhard, seit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine haben wir es wieder vermehrt mit Propaganda zu tun. Warum haben Sie jetzt einen Roman über die NS-Propaganda geschrieben?
Die Medien haben sich in den letzten 80 Jahren zwar vervielfacht. Im Kern aber sind die Mechanismen der Propaganda erstaunlich gleich geblieben. Die zentrale Frage ist auch heute noch: Wie erzähle ich eine gewisse Version der Geschichte möglichst glaubhaft? Ob das nun mit gestellten und gefälschten Bildern oder manipulierender Rede geschieht, ist nicht so entscheidend.
Joseph Goebbels, der Propagandaminister von Adolf Hitler, gründete während des Zweiten Weltkriegs den Rundfunksender Germany Calling. Dort musste eine Big Band Swingmusik spielen. Was hat Sie daran interessiert?
Diese Geschichte ist ein Lehrstück dafür, wie Propaganda funktioniert. In den letzten zwanzig Jahren haben sich auch die Möglichkeiten der Propaganda erweitert. Wie wir an den US-Wahlen und dem Krieg in der Ukraine sehen, werden diese Möglichkeiten rege genutzt. Mich hat interessiert, wie Propaganda vor rund 80 Jahren funktioniert hat. Es ist erstaunlich, wie wenig sich seither verändert hat.
Was hat Sie überrascht, als Sie sich mit der Propagandamaschinerie im Dritten Reich auseinandergesetzt haben?
Was mich wirklich erstaunt hat, ist der Erfolg, den die NS-Propaganda auch im Ausland erzielt hat. Zweifel säen, die Autorität einer Regierung untergraben: Das waren die Hauptaufgaben der Auslandspropaganda. Im Krieg wurde sie aber auch sehr effizient als militärische Waffe eingesetzt: 1940 hat man durch die gezielte Verbreitung von Falschinformationen im Propagandaradio die französische Zivilbevölkerung früh in die Flucht getrieben, was dann die Nachschubwege der französischen Truppen entscheidend blockierte.
Es ist ausgesprochen zynisch, dass auch Juden oder Homosexuelle mitspielen mussten. Menschen, die im Dritten Reich brutal verfolgt wurden.
Ja, Goebbels und seine Mitarbeiter waren durchaus in der Lage, streng utilitaristisch zu denken. Das langfristige Ziel war, den Krieg zu gewinnen. Wenn man dafür eine Zeit lang Jazz spielen und Juden am Leben lassen musste, dann nahm man das in Kauf. Die Menschen verwendete man wie ein Instrument, um die eigenen Ziele zu erreichen. Auch den Musikern war bewusst, dass sie Jazz für ein Regime spielten, das langfristig auf die Abschaffung dieser Musik und, noch schlimmer, auf ihre Vernichtung hinarbeitete.
Swing assoziiert man eher mit dem Frivolen und dem Befreiten. Darüber wurden aber propagandistische Texte gedichtet. Was sagten diese aus?
Churchill in der Badewanne, der seinen versenkten Schiffen nachweine, Churchill, der angeblich bereits seine Flucht nach Kanada organisiert habe: Die Texte, die über Swingklassiker gelegt wurden, sind wie Sketche geschrieben. Sie zielen auf den Humor des Publikums ab, was wiederum mit dem lebhaften und flippigen Ton des Swing gut zusammengeht. Reduziert man die Texte aber auf ihre menschenverachtenden Botschaften, dann zeigt sich in diesen Songs wie in einem Brennglas der Zynismus des ganzen Unternehmens: Eine lebensfrohe Musik wird für den Kriegserfolg missbraucht.
Sie hätten auch ein erzählendes Sachbuch schreiben können. Warum aber die Form des Romans?
Mich hat die menschliche Dimension dieser Tragödie interessiert. Und ich wollte die im Stoff angelegte tragische Komik herausarbeiten. Ein Sachbuch muss sich hier zurückhalten. Nur ein Roman kann bis zum Äussersten gehen.
Nach welchen Kriterien haben Sie entschieden: Was bleibt Fakt, und woraus mache ich Fiktion?
Das Hauptthema des Romans ist Propaganda, die Wahrheit und Fiktion so lange miteinander vermengt, bis ein gewünschtes Narrativ entsteht. Die Verdrehung von Fakten wollte ich auch auf textlicher Ebene umsetzen. Da dies aber nur vor dem Hintergrund von Tatsachen erkennbar wird, habe ich fast alles historisch akkurat wiedergegeben. Wo absichtlich von der Wahrheit abgewichen wird, hat dies einen bestimmten Zweck.
In Ihrem ersten Roman «Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat» ging es um die offene Drogenszene am Zürcher Platzspitz. Was reizt Sie daran, von wahren Begebenheiten auszugehen?
Mich interessieren vor allem historische Extremsituationen. Hier ist die menschliche Psyche besonders starken Kräften ausgesetzt. Mich interessiert, wie Menschen in diesen Situationen handeln. Ich begreife meine beiden Romane als eine Art Versuchslabor für die Vergangenheit, in dem man die Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Handelns ausloten kann.
Gibt es eine Ehrfurcht vor historischen Stoffen, die es am Anfang zu überwinden gilt?
Es gibt vor allem die Ehrfurcht vor der Gesamtheit der Quellen und Fakten. In der Wissenschaft ist es selbstverständlich, dass man alle Quellen und Fakten in die Arbeit einbezieht. Bevor man historische Romane schreibt, sollte man zwar auch alle Fakten kennen. In der erzählenden Literatur steht die Story einer oder mehrerer Figuren aber über allem. Nur was für diese Figuren wichtig ist, kommt im Roman vor. Den Rest lässt man schweren Herzens weg. Andernfalls wirkt der Roman wie ein Lehrbuch.
Kommt es Ihnen bei der Recherche zugute, dass Sie promovierter Archäologe sind?
Ich würde sogar sagen, dass ich als Autor nicht viel anderes mache als ein Archäologe. Ich rekonstruiere die Vergangenheit, lasse längst zerstörte Gebäude wieder auferstehen und denke darüber nach, was die Menschen dort gemacht haben könnten.
Lesung und Gespräch mit Demian Lienhard am Freitag, 16. Juni, um 20 Uhr in der Buchhandlung Kapitel 10 in Zürich.
Fehler gefunden?Jetzt melden.