Muslimin, Frau, Boxerin«Das Kopftuch ist meine Krone»
Sie entspreche vielen Vorurteilen, sagt Doha Taha Beydoun, trotzdem passe sie in keine Schublade. Im Ring und ausserhalb zeigt die Berlinerin, wer sie ist.
Zwei Frauen schauen sich tief in die Augen. Sie umkreisen sich, verlagern ihr Gewicht von einem Bein aufs andere. Beide halten ihre Boxhandschuhe eng vors Gesicht. Die grössere Frau schlägt zu, die kleinere duckt sich nach links. Der Schlag verliert sich in der Luft.
Noch ein Schlag. Jetzt mit links. Er trifft. «Schnell wieder aufrichten!», sagt die Trainerin, «das ist wie im richtigen Leben: Du darfst nicht nur zuschauen und auf die anderen warten. Mach selbst was, greif an!»
Solche Ratschläge wird Doha Taha Beydoun in diesen eineinhalb Stunden Boxtraining in Berlin-Kreuzberg noch häufig geben.
Doha Beydoun ist Deutsche mit libanesischen Wurzeln, trägt einen Hijab, ist 21 Jahre jung, verheiratet, im neunten Monat schwanger. «Damit erfülle ich viele Klischees, oder?», sagt sie und lächelt.
Beydoun will der Öffentlichkeit zeigen, dass es die «typische Muslimin» gar nicht gibt. Als Boxerin kämpft sie gegen Vorurteile, mit denen Musliminnen mit Kopftuch konfrontiert sind. Und Frauen, die boxen.
Vornamen und Pronomen
«Diese Halle ist mein zweites Zuhause», sagt Beydoun und schaut sich um. Ihr Kopftuch zieht sie mit schnellen Bewegungen ab, weil heute ausschliesslich Frauen da sind. «Jetzt aber keine Fotos mehr.»
Beydoun studiert Gesundheitsmanagement, ist die Jüngste in der Halle und macht trotz wachsendem Bauch ein paar Kniebeugen, nachdem sie die nächste Übung erklärt hat. Sie korrigiert die Technik der Boxenden mit Sätzen wie «Probier doch mal» und «Das könntest du verbessern».
Fünf- bis sechsmal wöchentlich trainiert sie mehrere Gruppen in zwei Vereinen. Heute im Verein Seitenwechsel, der sich an Mädchen, Frauen, Lesben, Trans- und Intersexuelle richtet. 15 Minuten vor dem ersten Kampf stellten sich auf Doha Beydouns Aufforderung alle acht Anwesenden vor, mit Vornamen und Pronomen. «Doha, ich benutze das Pronomen ‹sie›.» Zwei Anwesende sagen, dass sie keine Pronomen benutzen.
Zusätzlich trainiert sie Mädchen im Verein Boxgirls Berlin, wo auch sie vor sechs Jahren das Boxen für Mädchen entdeckte.
Sport und soziale Arbeit
Doha Beydoun kam als Säugling mit ihrer Familie nach Berlin. Sie sei schon in der Schule sportlich gewesen, fürchtete sich jedoch ständig vor Ablehnung. «Ich war schüchtern und zurückhaltend, ausser im Sport.»
Sie suchte nach einer Sportart speziell für Frauen. Es sei für sie und auch für ihre Mutter wichtig, dass sie sich wohlfühle und mit oder ohne Kopftuch trainieren könne. Nach einer kurzen Recherche kam sie auf die Boxgirls. «Boxen ist eine respektvolle Sportart, und die Website hat mich sofort begeistert.»
Der Verein will mit dem Training gezielt Mädchen und Frauen darin unterstützen, sich aktiv und mutig in ihren Vierteln einzusetzen. Damit mehr Orte der Chancengleichheit und Sicherheit entstehen. Und sie kämpfen dafür, dass Boxen weiblicher wird.
Die soziale Arbeit sei ebenso wichtig wie der Sport, erklärt Beydoun. Der Verein geht an Schulen, macht Workshops, Projekte und Veranstaltungen zum Thema Sexismus, Rassismus, Gewalt an jungen Frauen, Mobbing oder Geschlechtervielfalt.
Zurzeit helfen beide Vereine geflüchteten Ukrainerinnen. Seitenwechsel hat einen Aufruf gestartet, dass diese kostenlos mittrainieren dürfen. Boxgirls hat zwei Ukrainerinnen als Trainerinnen eingestellt.
Bei den Boxgirls trainierte schon Zeina Nasser, Berliner und Deutsche Boxmeisterin im Federgewicht. Sie und der Verein haben es geschafft, die internationalen Wettkampfregeln so zu ändern, dass Frauen im Hijab boxen dürfen.
Ein «Safespace» für Frauen
Die Nervosität vor ihrer ersten Boxstunde verflog schnell. «Alle werden hier so akzeptiert, wie sie sind. Mein Kopftuch war hier nie Thema. Und ich wurde halt richtig gut.» Ihre Eltern hätten sie dabei immer unterstützt. Ihre Mutter sei selbst schon in ein Training gekommen.
Vor drei Jahren absolvierte sie die Ausbildung zur Trainerin. «Ich will den Kindern helfen, wie mir geholfen wurde. Sie sollen lernen, dass es im Boxen und im Leben um Leistung, Ausdauer und Technik geht, nicht um Aussehen, Religion oder Ethnie.»
Spricht Doha Beydoun über den Sport, klingt sie euphorisch, selbstbewusst, voller Hoffnung. Doch sie weiss, dass die Welt draussen ganz anders sein kann. «Diese Halle ist unser ‹Safespace›.»
Als «anders» wahrgenommen
Obwohl Berlin als bunt und offen gilt, hat Beydoun ihre erste negative Erfahrung bereits mit acht Jahren gemacht. Sie stand mit ihrer Mutter an einer Bushaltestelle, als zwei Männer neben ihnen laut anfingen, über das Kopftuch ihrer Mutter zu lästern. «Sie sagten, sie gehöre nach Hause in die Küche, wenn sie das tragen wolle. Ich realisierte, dass wir als anders wahrgenommen werden und nicht erwünscht sind. Das tat weh.»
Seit sie neun Jahre alt ist, trägt sie selbst ein Kopftuch. «Dann beginnt die Pubertät, die Reife», erklärt sie. Sie verstand ihre Mutter als Vorbild. In der U-Bahn wurde sie deswegen schon selbst beschimpft oder abschätzig angeschaut. An ihrem ersten Vorstellungsgespräch für ein Praktikum im Rahmen ihres Studiums betonte ihr Gegenüber wiederholt, dass sie in diesem Fitnessstudio auch mit Männern zusammenarbeiten oder enge Kleidung tragen müsse.
Menschen seien fehlbar, nicht die Religion
Aktuelle Entwicklungen tragen zu einem negativen Bild ihrer Religion bei, vor allem, was die Frauenrechte betreffen. Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan gibt es Berichte, dass Frauen ohne eine männliche Begleitung das Haus nicht mehr verlassen, teilweise nicht mehr arbeiten und Mädchen ab der 7. Klasse nicht mehr zur Schule gehen dürfen.
Im Westen sind auch viele Feministinnen der Meinung, Hijab, Nikab oder Burka entrechteten die Frauen und gehörten nicht hierher.
«Nicht mein Kopftuch, sondern Menschen, die mich deswegen anfeinden oder mir vorschreiben, wie ich mich zu kleiden habe, unterdrücken mich.»
Ob ein Kopftuch nicht das falsche Zeichen sende, gerade für junge Mädchen?
Doha Beydoun schüttelt den Kopf. Sie macht eine Pause und sagt dann: «Nicht eine Religion ist extrem, sondern bestimmte Menschen. Nicht die Bevölkerung ist schlecht, sondern bestimmte Regierungen.»
Das Kopftuch beschütze sie und sei ein Teil von ihr. Sie habe selbst beschlossen, es zu tragen. Ihre beiden Halbschwestern entschieden sich dagegen. Und auch das sei als Muslimin okay. «Das Kopftuch ist meine Krone. Nicht mein Kopftuch, sondern Menschen, die mich deswegen anfeinden oder mir vorschreiben, wie ich mich zu kleiden habe, unterdrücken mich.»
Frauen wie Doha Beydoun gehörten zu einer jungen und emanzipierten Generation, die ihre Rechte selbstbewusst einzufordern wisse, sagt Meltem Kulaçatan. Die Erziehungs- und Politikwissenschaftlerin forscht zum Thema Migration, Islam und Feminismus an Universitäten in Deutschland und in der Schweiz. Die Abneigung gegenüber einer Frau mit Kopftuch sitze tief und nehme vor allem dort zu, wo diese sichtbarer und aktiver würden.
Rassismus könne auch wieder verlernt werden, meint Kulaçatan. Deshalb seien Frauen wie Beydoun so wichtig. «Ein selbstbestimmtes Leben muss mit und ohne Kopftuch möglich sein. Ich muss die Kleidung meines Gegenübers nicht gutheissen. Aber ich muss dieser Person die gleichen Rechte zugestehen.»
Der Kampf dafür brauche viel Kraft und Mut. «Frauen wie Beydoun kämpfen oftmals an zwei Fronten: Sowohl nach aussen, bezüglich der sogenannten Mehrheitsgesellschaft, als auch zum Teil nach innen, bezüglich ihrer eigenen Communities.»
Mit Kommunikation ans Ziel
Doha Beydoun nimmt diesen Kampf an. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Menschen zu zeigen, wie sie als Muslimin ist. «Weil», sie zeigt auf ihren Kopf, «ich habe hier was», sie zeigt auf ihren Bizeps, «und hier was.»
Deswegen hat sie heute auch keine Angst mehr, Menschen, die ihr Kopftuch offensichtlich ablehnen, zu konfrontieren. Sie antwortete der Frau im Bewerbungsgespräch bezüglich enger Kleidung und Männern, dass sie Sportlerin sei. Die Arbeit als Trainerin sei ihr bekannt. Werde sie in der U-Bahn abschätzig angeschaut, versuche sie, auf diese Menschen zuzugehen. «Ich sage ihnen direkt, aber freundlich, dass ich dieses Verhalten nicht okay finde.»
Nur weil sie schwanger, verheiratet und Muslimin sei, höre sie noch lange nicht auf, zu kämpfen – weder im Ring noch ausserhalb.
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